Die Braut des Vagabunden
Blick belohnt.
„Ich lache dich nicht aus“, sagte sie. „In ihrem eigenen Haus hat sich Lady Desirée schon vor Jahren an die Abwesenheit ihres Vaters gewöhnt. Auf Kilverdale Hall war es anders für sie, weil er sie bei ihrem einzigen Besuch dort begleitet hatte. Ihre Erinnerungen waren mit ihm verbunden. Deswegen hatte ich vorgeschlagen, Billard zu spielen.“
„Weil die letzte Erinnerung, die sie an den Billardtisch hatte, meine Grausamkeit war“, sagte Jack und verzog das Gesicht. „Und du wolltest ihr eine schöne Erinnerung verschaffen. Du bist sehr mitfühlend.“
„Danke. Ich bin nicht so ein guter Mensch wie du, aber ich versuche, deiner wert zu sein.“
Ihre Bemerkung verwirrte ihn so, dass er nichts darauf erwiderte. Temperance wollte seiner wert sein, nicht weil er ein Duke war, sondern weil sie ihn für ein moralisches Vorbild hielt. Es war das bewegendste Kompliment, das er je bekommen hatte.
„Zum Teil lag es an dem, was sie mit dir erlebt hat“, sagte Temperance.
Es dauerte einen Moment, ehe Jack begriff, dass sie noch immer über Lady Desirée sprach.
„Aber auch daran, dass bei der Begegnung am Billardtisch ihr Vater dabei war“, fuhr Temperance fort, „und mir schien, dass ihre Erinnerung an ihn noch stärker war als ihre Erinnerung an dich. Dir war sie seither unter weitaus angenehmeren Umständen begegnet.“ Temperance lächelte ihn an. „So kam ich darauf, dass dir vielleicht etwas Ähnliches passiert, wenn du unerwartet Swiftbourne begegnest. Vielleicht hast du nicht genügend neue Erinnerungen geschaffen, die die alten, so schmerzhaften vertreiben?“
Jack starrte Temperance an. Er sah, wie sie sich auf die Unterlippe biss, und begann zu ahnen, dass sie befürchtete, ihn verärgert zu haben, aber die meisten seiner Gedanken waren zurückgewandert in jenes Zimmer in Paris, in dem Swiftbourne ihm vor fünfzehn Jahren von der Hinrichtung seines Vaters berichtet hatte.
„Ich hätte es nicht erwähnen sollen“, sagte Temperance, „nicht wenn wir unterwegs sind an den Hof. Es tut mir leid. Das war nicht der richtige Zeitpunkt …“
Mit einem weiteren Kuss brachte Jack sie zum Verstummen.
„Es war großzügig und tapfer von dir, mir das zu sagen“, sagte er. „Möglicherweise …“ Er zögerte, denn es war nicht leicht, eine Schwäche einzugestehen, aber sie sollte wissen, was er dachte. „Möglicherweise hast du recht, zumindest zum Teil.“
„Glaubst du wirklich?“ Einen Moment lang wurde ihr Blick inniger, als wollte sie in seinem Gesicht erforschen, ob er die Wahrheit sagte. Dann erhellte ein strahlendes Lächeln ihr Gesicht. „Ich bin ja so froh.“
Bei dieser freimütigen Erklärung stockte ihm der Atem. Es freute sie wirklich, dass sie ihm vielleicht etwas Hilfreiches sagen konnte. Das bestärkte ihn nur in dem Entschluss, die Gesellschaft eine Weile zu meiden. Wenn sie ein wenig Zeit allein verbringen könnten, dann – davon war er überzeugt – würde er sie dazu bringen, ihn zu lieben. Doch zuerst mussten sie den Ball des Königs besuchen.
Bei ihrer Ankunft am Hofe Charles II. sah Temperance sich fasziniert um. Zahllose Kerzen erhellten die Halle, die geschmückt mit Blättern, Blumen und Früchten war. In dem strahlenden Licht schimmerten die üppigen Gewänder der Höflinge, Edelsteine blitzten hier und da auf. Einige Damen trugen sogar Kleider aus Silberstoff, aber Temperance war zufrieden mit ihrem Hochzeitskleid und den Perlen, die sie um den Hals trug. Nach wochenlanger Übung hatte sie gelernt, Seide und Spitze mit Anmut zu tragen, und sie war sicher, von ihrem sorgfältig frisierten Haar bis zu den seidenen Schuhen jeder Zoll wie eine Duchess auszusehen.
Allerdings lag es nicht nur an ihren Lektionen und ihrem veränderten Äußeren, dass sie selbstsicher genug war, sich gelassen unter den Höflingen zu bewegen. Es war das Vertrauen, das Jack immer in sie gesetzt hatte. Auf dem Boot war ihr plötzlich klar geworden, dass das größte Geschenk, das er ihr je gemacht hatte, sein Vertrauen war. Noch wunderbarer war, dass er sie so leidenschaftlich geküsst und ihr erklärt hatte, sie würden nach dem Auftritt bei Hofe etwas freie Zeit nehmen. Jetzt sang sie innerlich, denn auch wenn er ihr keine Liebeserklärung gemacht hatte, so war das doch sicher ein hoffnungsvolles Zeichen?
Obwohl sie sich so glücklich fühlte, war ihr übel vor Aufregung, während Jack sie dem König und der Königin vorstellte. Ihre Knie zitterten so sehr, dass sie
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