Die Braut des Vagabunden
ihm das Gesicht zu. Er ließ seine Lippen über ihre Wange gleiten und küsste endlich ihren Mund.
Temperance fühlte diese Berührung bis hinunter in ihre Zehenspitzen. Und doch war es nur sein Mund. Sie hielt seinen Rock in ihren Fäusten, und seine Hände ruhten auf ihrem Rücken, aber zwischen ihren Körpern war noch immer Platz. Bloße Haut berührte sich nur an ihren Lippen. Es erstaunte sie, dass all diese neuen, entzückenden Gefühle von nichts anderem hervorgerufen wurden als von den Bewegungen seiner Lippen und Zunge.
Es war zu dunkel im Laden, um viel zu sehen, aber sie schloss die Augen, um diese Erfahrung besser genießen zu können. Nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches erlebt. Wie konnten die Lippen eines Mannes gleichzeitig so fest und so weich sein? Seine Liebkosungen so zart und doch so betörend? Mit der Zunge berührte er ihre Oberlippe, streichelte und erforschte sie, bis ihr die Knie zitterten. Sie spürte kaum, was sie tat, als sie den Arm um seinen Hals legte und sich Halt suchend an ihn lehnte.
Er hielt sie fester. Mit einer Hand zog er sie ganz nah an sich. Die andere hob er, um ihren Kopf zu umfassen und sie festzuhalten, sodass er seine Zunge in ihren Mund gleiten lassen konnte und der sanfte Kuss energischer wurde. Lichter schienen hinter Temperances Lidern zu explodieren. Sie schrie leise auf und wich ein Stück zurück, halb fasziniert, halb entsetzt über diese unbekannten Gefühle.
Nach einem Augenblick lockerte er seinen Griff. „Es tut mir leid“, flüsterte er in ihr Haar hinein. „Das war nicht meine Absicht.“
„Ach nein?“ Temperance stieß gegen seine Brust, verärgert über diese Bemerkung. „Habt Ihr im Dunkeln vergessen, wie ich aussehe?“
Mit einem raschen, beinahe ungeduldigen Kuss brachte er sie zum Verstummen.
„Natürlich weiß ich, wie Ihr ausseht“, sagte er dann und ließ sie los. „Beleidigt mich nicht. Oder Euch selbst. Sogar ich, den Ihr für unverbesserlich und verantwortungslos haltet, stelle gelegentlich die Vernunft über das Vergnügen.“
Temperance stockte der Atem, als sie an das Feuer dachte. Wie hätte sie das vergessen können, selbst für einen Moment? Ehe sie etwas erwidern konnte, hörte sie Schritte auf der Treppe.
„Mistress, seid Ihr das?“ Sarah, ihr Hausmädchen, stürmte in den Laden. Isaac folgte ihr auf den Fersen. „Was sollen wir tun?“
„Ich …“, begann Temperance, die zum ersten Mal in ihrem Leben unsicher war, was sie als Nächstes tun sollte.
„Packt und macht Euch zum Aufbruch bereit“, sagte Jack.
„Was?“ Sie drehte sich zu ihm um.
„Die Wasserräder unter der Brücke wurden bereits zerstört. Von oben sind brennende Holzstücke daraufgefallen. Ich habe den Schaden mit eigenen Augen gesehen. Aus dem Fluss kann kein Wasser mehr geholt werden, selbst wenn es möglich wäre, nahe genug an die Flammen heranzukommen, um sie zu ersticken. Wenn der Wind nicht nachlässt, kann nichts die Ausbreitung des Feuers verhindern.“
Temperance presste die Hand vor den Mund. Vor ein paar Augenblicken nur hatte sie Jack geküsst. Noch immer glühte ihr Körper von den Gefühlen, die er in ihr geweckt hatte. Jetzt wandten sich ihre Gedanken der Katastrophe zu, die den Osten der Stadt übernommen hatte.
„Es ist immer noch mindestens eine Viertelmeile entfernt“, flüsterte sie. „Bestimmt …“
„Betet darum, dass der Wind nachlässt und ein heftiger Regen kommt“, sagte Jack mit fast brutaler Deutlichkeit. „Vielleicht wird sich das Feuer nicht bis hierher ausbreiten – aber es ist besser, in Sicherheit zu sein, als zu verbrennen.“
In dem Schweigen, das auf seine Worte folgte, begann Sarah zu weinen. Temperance schluckte und versuchte, klar zu denken. Sie sah sich im Laden um. Ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht. In jeder Krise, die London heimgesucht hatte, hatte sie zumindest gewusst, dass ihr Zuhause sicher war.
„Wohin gehen?“, fragte sie. „Und wie weit? Alle, die ich kenne, leben nur ein paar Straßen von hier entfernt.“
„Zuerst einmal zu ‚Bundle’s Kaffeehaus‘ in Covent Garden“, sagte Jack. „Bundle ist ein alter Freund von mir. Er wohnt beinahe anderthalb Meilen vom Mittelpunkt des Feuers entfernt. So Gott will, wird es sich nicht bis dahin …“
Sobald er eilige Schritte hörte, brach er ab. Gleich darauf sah Temperance eine Frau in der Tür stehen.
„Ist meine Katie hier?“ Nellie Carpenter schluchzte beinahe, als sie diese Frage stellte.
„Katie? Nein, Nellie,
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