Die Braut des Vagabunden
mit verkrustetem Blut bedeckt. Seine Nase und seine Lippen waren geschwollen, und er atmete mühsam durch den Mund.
„Herrin?“
„Isaac.“ Sanft strich sie ihm über die Arme. Sie wusste nicht, welche anderen Verletzungen er noch hatte, und sie wollte ihm nicht noch mehr wehtun, indem sie ihn zu fest anfasste. „Was ist passiert?“
Er sah sie an, und in seinen Augen standen Tränen.
„Komm herein.“ Sie legte einen Arm um seine Schultern. „Jetzt bist du in Sicherheit. Ich versorge deine Wunden und …“
„Ich habe Euch im Stich gelassen!“, schrie er. Die Worte waren schwer zu verstehen, nicht aber seine Verzweiflung.
„Mich im Stich gelassen?“ Temperances erster Impuls war, seine Wunden zu versorgen, doch nun wurde sie von einer dumpfen Vorahnung erfasst. „Inwiefern?“
„Ich habe – ich habe den Karren verloren!“ Er äußerte dieses Bekenntnis stoßweise. „Jemand hat dem Fuhrmann mehr geboten, und sie haben alle Waren hinausgeworfen. Ich habe versucht – habe versucht, sie aufzuheben. So viel zu bewahren, wie ich konnte. Aber ich habe es nicht geschafft. Alles wurde zertrampelt oder gestohlen. Es tut mir leid …“ Verzweiflung überwältigte ihn. Er konnte nicht mehr sprechen, er stand hilflos neben Temperance und schluchzte.
„Alles ist weg?“
„Es tut mir leid – es tut mir so leid.“
Temperance schlang die Arme um ihren verzweifelten Lehrjungen. Sie war ein ganzes Stück größer als er, und schließlich lag sein Kopf an ihrer Schulter, und er weinte all die Scham und Furcht aus sich heraus.
„Ich weiß. Es ist nicht deine Schuld. Weine nicht. Das macht es bloß schlimmer.“
Isaac war vierzehn und weder besonders robust noch selbstsicher. Sie wusste, dass er sein Bestes getan hatte, aber er war nicht dafür geschaffen, sich gegen die Katastrophe zu wehren, die über ihn gekommen war. Wenn sie dabei gewesen wäre …
Sie unterdrückte diesen Gedanken, ehe sie dem Zorn und der Verzweiflung ebenso ausgeliefert war wie Isaac dem Gefühl, versagt zu haben.
„Schluss jetzt damit! Jetzt bist du bei mir in Sicherheit“, sagte Temperance und griff auf den entschiedenen Tonfall zurück, den sie oft im Laden benutzt hatte, obwohl sie sich bisher in ihrem Leben nur selten weniger sicher gefühlt hatte.
„Ja.“ Erleichtert ließ er die Schultern sinken. Er brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. „Ich habe Euch gefunden. Was tun wir jetzt?“
Covent Garden. Sonnabendmorgen, 16. September 1666
Temperance straffte die Schultern und schob die Tür zu „Bundle’s Kaffeehaus“ auf. Nachdem sie den Mut aufgebracht hatte, das fremde Haus zu betreten, war sie beinahe enttäuscht festzustellen, dass der Raum leer war, abgesehen von einem alten Mann, der Pfeife rauchte, und einem Jungen, der Sägespäne auf dem Boden verstreute.
„Guten Morgen, Mistress“, sagte der Junge. „Kann ich Euch helfen?“
„Ich – vielen Dank. Ich hoffe“, sagte sie. Zwei Wochen war es her, seit das Feuer begonnen hatte, London zu zerstören, und dies war ihre erste Gelegenheit, ins Kaffeehaus zu kommen. Sie hatte Arbeit gefunden im Geschäft eines der Freunde ihres Vaters – Daniel Munckton –, dessen Inventar vom Feuer verschont geblieben war.
„Möchtet Ihr Kaffee?“, fragte der Junge.
„Oh. Nein, danke. Ich suche Jack Bow“, sagte sie und fühlte, wie sie vor Verlegenheit rot wurde. Es war das erste Mal, dass sie einen Mann nicht aus geschäftlichen Gründen suchte.
„Jack Bow?“ Der Junge sah sie erschrocken an.
„Ist er hier?“
„Nein – nein.“ Ihre Frage schien den Jungen erschüttert zu haben, und in seinen Augen lag ein Ausdruck, der Temperance erschauern ließ.
„Ist er – ist er ein Freund von Euch, Mistress?“
„Ja. Was ist los?“ Temperance vergaß ihre Verlegenheit, als ihr schreckliche Möglichkeiten in den Sinn kamen. Jacks Cousin war in Newgate gefangen gewesen. War auch Jack eingesperrt worden? Oder …?
„Er – Mr. Bundle sagte mir …“
„Was?“ Temperance wollte nach dem Jungen greifen, verschränkte dann aber die Arme vor der Brust, damit sie die Informationen nicht aus ihm herausschüttelte. „Wo ist Jack? Was hat Mr. Bundle dir gesagt?“
„Jack Bow ist tot“, flüsterte der Junge mit Tränen in den Augen.
„Was?“ Temperance vermochte es nicht zu glauben. „Nein, das kann nicht stimmen …“ Wie sollte Jack – der starke, kluge, so lebendige Jack – tot sein? „Ich glaube dir nicht.“
„Es stimmt.“ Der Junge nahm
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