Die Braut des Wuestenprinzen
nicht ohnmächtig oder so. Es ist nur …“ In einem Anflug von Panik schlug sie die Hände vor die Augen. Was war nur mit ihr los?
Sie spürte Karim Durrans Anwesenheit überdeutlich.
„Ich glaube, sie friert“, hörte Elenor eine Stimme sagen. Und dann hüllte sie plötzlich Wärme ein. Sie öffnete die Augen und sah, dass Karim seine dicke schwarze Jacke um sie gelegt hatte. Gerade hakte er seelenruhig den Reißverschluss ein.
Eine Sekunde später hatte er den Reißverschluss hochgezogen, und sie war gefangen.
Sie fühlte sich zugleich beschützt und hilflos, wie ein kleines Kind. Fast meinte sie, Karim Durran zu lieben. Wie hatte sie sich nur vor ihm fürchten können? Natürlich konnte sie ihm trauen. Jeder konnte ihm trauen.
„Du zitterst nicht mehr“, bemerkte er mit dem verführerischsten Lächeln der Welt.
Sofort kam die Panik wieder. Elenor merkte, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte. War es das, was er mit den Leuten machte? War das der unerklärliche hypnotische Effekt?
Starr sah sie ihn an und hoffte, dass er ihre Panik nicht bemerkte. „Danke“, murmelte sie und schluckte. „Jetzt geht es mir wieder gut. Du kannst deine Jacke zurückhaben.“
„Behalt sie doch erst einmal“, erwiderte er mit tiefer, anziehender Stimme. „Du kannst sie mir später zurückgeben.“
„Nein“, protestierte Elenor, „ich kann mich nicht bewegen. Bitte mach den Reißverschluss auf!“ Nun war es ihr egal, ob sie panisch oder wütend klang, sie wollte nur noch aus dieser Jacke heraus. Auf keinen Fall würde sie die Jacke behalten und später gezwungen sein, ihn deswegen noch einmal zu treffen.
Als er die Jacke öffnete, berührte er Elenor wie zufällig leicht am Kinn. Sie wand sich und ließ die Jacke von ihren Schultern gleiten.
„Der Nächste, bitte“, rief die Frau hinter der Essenstheke. Elenor war an der Reihe, und als sie bestellte, wandte Karim sich wieder seinen Freunden zu.
Nach diesem Erlebnis mied sie ihn noch verzweifelter als vorher. Sie hatte Angst vor der Macht, die er auf sie ausüben könnte, wenn sie ihn nur ließe. Wenn er einen Raum betrat, verließ sie ihn auf der Stelle. Oder sie setzte sich so, dass zumindest eine Säule zwischen ihnen stand.
Doch es war nicht einfach. Es gab nicht besonders viele Versammlungsräume in der Uni. Und neuerdings hielt Karim sich immer ausgerechnet dort auf, wo sie hinkam. Und wenn er nicht da war, konnte sie sicher sein, dass er in Kürze auftauchen würde.
Eines Tages saß sie im Frühjahr allein unter einem Baum auf der Wiese vor der Universität. Sie starb beinah vor Schreck, als Karim sich plötzlich von einem Ast direkt über ihr fallen ließ.
„ Ben khoda tokel “, sagte er sanft. „Vertraue in Gott“ lautete die traditionelle parvanische Begrüßung. Automatisch antwortete sie „ Ben khoda .“
Er trug die braune Lederjacke, die er immer anhatte, und dazu schwarze Jeans und Stiefel. Trotz seiner modernen Kleidung sah er immer ein wenig wie ein venezianischer Pirat aus dem 16. Jahrhundert aus. Sein dichtes Haar, die leicht mandelförmigen Augen unter den dichten, geraden Brauen, die geschwungenen Lippen inmitten des schwarzen Barts und diese Nase …
„Was hast du dort oben gemacht?“, fragte Elenor.
Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe versucht, mich zu Hause zu fühlen.“
Zuerst verstand Elenor nicht, was er meinte.
„In Parvan gibt es keine Großstädte. Auf die Dauer ist London sehr anstrengend.“
Als er sich neben sie ins Gras legte, war Elenor erschrocken und froh zugleich.
Egal, was ihre Vernunft ihr riet, es war aufregend, in seiner Nähe zu sein. Er pflückte einen Grashalm, steckte ihn in den Mund und kaute gedankenverloren darauf herum.
„Das Leben in den Städten ist eine entwicklungsgeschichtliche Herausforderung für die Menschheit“, sinnierte er. „Wir hatten nur ein Jahrhundert Zeit, uns daran zu gewöhnen, mit Millionen von Menschen auf engstem Raum zusammenzuleben.“
„Aber London ist schon seit mehr als hundert Jahren eine Stadt“, erwiderte Elenor stirnrunzelnd.
„Ja, aber was bedeutete das Wort ‚Stadt‘ damals? Um 1800 war diese Stelle, an der wir jetzt sitzen, sicher ein Acker. London reichte damals gerade mal bis dort drüben.“ Er deutete auf eine Stelle, die etwa eine Straße weiter lag.
„Wirklich?“, staunte Elenor. Die Universität lag mitten in London. Von dort aus, wo sie saßen, verlief die Stadtgrenze in alle Richtungen mindestens 30 oder 40 Kilometer weit
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