Die Brillenmacherin
ihm, eine bittere, eine finstere Ahnung. Catherine Rowe lief nicht fort, wie ein unwissendes |310| Kind sich von seinen Eltern entfernte, nur um bald festzustellen, daß es sich damit selbst schadete. Nein, Catherine Rowe feindete ihn an. Sie versuchte ihn zu hintergehen, und das aus eigenem Wollen heraus. Eine andere Gewalt überzeugte sie mehr, als er sie zu überzeugen vermochte.
Bemerkte sie nicht, daß die Ketzer falsch waren, verlogen, hintertrieben? Spürte sie nicht, daß sie jeglicher Kraft Gottes entbehrten? Catherine Rowe war unter seinen Werkzeugen eines der klugen gewesen. Sie tappte nicht versehentlich in eine Verschwörung hinein, die Versagen verhieß. Catherine Rowe glaubte, daß die Lollarden im Recht waren und daß ihre Unternehmung gelingen würde.
Ich habe nie erwogen, dachte er, daß dieser Ketzerhaufen womöglich die Wahrheit sagt. War denn die Kirche nicht tatsächlich bis zur Hüfte in den Morast der Welt hineingewatet? Man strebte nach Macht, nach Besitz, wie es die Fürsten taten. Man bediente sich ähnlicher Mittel, diese Ziele zu erreichen. Und man hütete das Recht, Gottes Lehren auszulegen, wie einen Schatz und vergaß dabei, diese Lehren als Heilmittel unter das Volk zu geben. Das Volk war krank, es brauchte nichts dringlicher als die Predigt von Gottes Liebe. Hatte nicht er, Courtenay, vernachlässigt, diese Liebe zu verkünden?
Aber es war müßig, darüber nachzudenken, mit welcher Farbe man die Fassade seines Hauses tünchen wollte, wenn einem nur mit Mühe gelang, es vor dem Einsturz zu bewahren. Er hatte einfach keine Zeit, sich um solche Äußerlichkeiten zu kümmern. Es galt, die Kirche als solche zu retten! Und die Lollarden sägten an ihren Balken, sie zündeten das Dach an, sie gruben Tunnel unter das Fundament. Die Lollarden zerstörten. Er bewahrte. Es war keine Frage, wer auf der richtigen Seite stand.
Seine Hand schnellte vor und verschloß den Brotbeutel. Drinnen zeterte das Eichhörnchen. Es hatte Krümel naschen wollen, ganz so, wie er es vorausgesehen hatte. Mit einem Hanfseil band er den Beutel zu, dann warf er ihn in die Waffentruhe. Sie war leer dieser Tage, die Waffen wurden gebraucht. |311| Der schwere Buchenholzdeckel würde für die scharfen Zähnchen des Eichhörnchens ein unüberwindbares Hindernis sein. Wenn er das Tier lange genug eingesperrt ließ, konnte er es eines Tages leicht herausnehmen, es war dann zu schwach, um zu fliehen. In einem neuen, eisernen Käfig würde er es aufpäppeln.
Wann war Catherine dem giftigem Hauch der Abtrünnigkeit ausgesetzt gewesen? Sie hatte einige Stunden bei Nevill verbracht. Danach aber hatte sie ihm Hereford ausgeliefert, sie war also noch sein treues Geschöpf gewesen. Die Ketzerei mußte sie später erfaßt haben. Wann? Wo? Auf der Fahrt nach Braybrooke? Bei Latimer?
Er benagte den Hautlappen zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie konnte er ergründen, warum Catherine Rowe zum Feind übergelaufen war?
Es kam nur Latimer als Ursache in Frage. Nevill war das
Schwert der Bedeckten Ritter, Montagu der Herold, Cheyne der Geldbeutel. Und Thomas Latimer? Wenn Doktor Hereford den Kopf der Ketzerbewegung darstellte, was blieb für Latimer, den, der sich kaum beim König blicken ließ, der nicht zum Hochadel gehörte wie viele andere des Geheimbunds, der überhaupt unscheinbar und verborgen gewesen war die ganzen letzten Jahre? Häufig fanden die Versammlungen der Geheimbündler bei ihm statt. Und, so hatte Repton berichtet, Latimer war es, der Ritter anwarb, dem Bund beizutreten, Latimer machte aus treuen Kindern der Kirche ketzerische Aufrührer.
Latimer war das Herz.
Courtenay schmeckte Blut. Er hatte sich in die Hand gebissen.
Natürlich, Latimer war das Herz. Er strahlte Wahrhaftigkeit aus. Er war der schlichte Ritter, der auf dem Schlachtfeld Heldenmut bewies, der aber dennoch weder beim König noch bei der Kirche Ämter bekleidete. Er strebte nicht nach Reichtum. Er strebte nicht nach Wissen. Er strebte nach der Wahrheit.
|312| Latimer hatte Catherine nicht mit Argumenten oder durch Bestechung überzeugt, sondern dadurch, daß er selbst bis in das Knochenmark an den Weg glaubte, den der Ketzerbund ging. Warum war
ihm
das nicht gelungen? Er hatte Catherine falsch behandelt. Statt ihr Geschenke zu machen und sie zu versorgen, hätte er mit ihr reden sollen. Statt sie zu zwingen, hätte er sie überzeugen müssen. Daß er das nicht gesehen hatte! Nun hatte sich sein Lamm einen neuen Stall gesucht.
Latimer
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