Die Brillenmacherin
keine Brille, nicht wahr?«
»Nein.«
»Aber ich trage eine, wenn ich lese. Weißt du, wie viele Linsen Elias Rowe geschliffen hat, bis die gefunden waren, die meiner Augenschwäche entsprechen? Es waren an die zwanzig. Zwanzig Brillen hat er mir gebaut! Es hat etliche Wochen gedauert, ehe wir die passende gefunden hatten. Und dann: Wie leicht bricht eine Brille entzwei. Wie leicht springt das Glas. Hat man einmal einen Brillenmacher gefunden, wird er zum ständigen Begleiter. Die Bedeckten Ritter lesen viel, habe ich gehört?«
»Sie lieben die Literatur.«
»Es scheint zu ihrer Ketzerei zu gehören. Sie werden Brillen brauchen.«
»Wie wollt Ihr die Witwe des alten Rowe dazu bringen, für Euch zu arbeiten? Ihr Mann hat Euer Begehr abgelehnt.«
»Sie wird mir aus Liebe folgen. Die Liebe ist eine starke Kraft. Habe ich dir nicht Liebe bewiesen, Philip? Ich habe dir die Ketzerei verziehen.«
Repton sah zu Boden.
»Vertraue mir.« Ein breites Lächeln zog über das Jungengesicht des Erzbischofs.
» Vide mirabilia Domini.
Siehe die Wunder des Herrn.«
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In einer der beiden Schenken mußte sich ein Händler finden lassen, der für drei Schillinge rasch und verschwiegen eine Nachricht nach Newstead Abbey brachte. Courtenay hatte zu erfahren, daß Thomas Söldner kaufte. Gedachte er, sie für einen Überfall zu verwenden? Warben Nevill, Cheyne und Montagu womöglich ebenfalls Männer an? Wenn ein landesweiter Aufruhr in Vorbereitung war, eilte die Nachricht.
Unmöglich jedoch konnte sie selbst zum Erzbischof reiten. Thomas schöpfte Verdacht, seit er sie beim Lauschen ertappt hatte. Aus irgendeinem Grund wagte er es nicht, sie zur Rede zu stellen. Sie durfte das auf keinen Fall herausfordern.
Zuerst zum Swan? Oder zuerst zur Sun? Anne raffte den Mantelkragen zusammen. Es war zu warm, um ihn zuzuknöpfen, und zu kalt, um sich der Herbstluft preiszugeben. Sie liebte diesen Mantel, gerade für die Jahreszeiten des Übergangs war er bestens geeignet. Er wog leichter als der Winterpelz, und er wärmte besser als der wollene Sommermantel. Ihre blasse Haut sah frisch aus vor dem Grau der russischen Eichhörnchenfelle. Die Locken wirkten weicher, wenn sie auf die hellen Tierborsten fielen.
Thomas hatte sie einmal überrascht angeschaut, als sie diesen Mantel trug, und etwas wie Bewunderung war in seinen Augen aufgeflammt. Seitdem verlieh er ihr Kraft, wann immer sie ihn trug.
Sie zog an der Tür des Swan. Ein schwerer Riegel schepperte im Inneren des Hauses. An einem trüben Herbstnachmittag wie diesem war der Swan geschlossen? Der Schankwirt mußte gute Reserven haben, daß er sich das leisten konnte.
Also hinüber zur Sun.
Es war ungewöhnlich still in Braybrooke. Kein Mensch war |157| zu erblicken. Selbst der Fluß schob sich schweigsam unter der Brücke am Kirchenhügel hindurch, er gurgelte nicht, rauschte nicht, ein Totenfluß. Die Luft benetzte Annes Gesicht. Es war milchige Luft. Sie verbarg die Enden des Dorfs mit weißen Schwaden vor ihren Blicken.
Die Fensterläden der Sun waren verschlossen. Kein Lichtschein spielte durch die Türritzen. Ratlos sah Anne sich um. An der Kirche blieb ihr Blick haften. Die Scheiben der langen, schmalen Kirchenfenster waren beschlagen. Wie konnte das sein? Die Kirche wurde nie geheizt, und beschlagene Fenster gab es nur während der Messe am Sonntag. Es war Montag.
Anne schlich über die Brücke, als würde sie sich nicht der Kirche, sondern einem Ungeheuer nähern. Vom hölzernen Dach äugten Krähen herab. Sie spreizten die Flügel, legten die Köpfe quer und liefen einige Krallenschritte.
Die hohen, nur im Wipfel bebuschten Bäume des Gräberfelds bei der Kirche knarrten sich Geheimnisvolles zu. Sie hielten still dabei, kaum ein Blatt rührte sich. Nachdenklich wie alte Männer lauschten sie.
Anne erklomm den Hügel. Vor der Kirchentür blieb sie stehen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich unmittelbar vor einem Wendepunkt in ihrem Leben zu befinden. Ähnlich hatte sie sich am Morgen des Hochzeitstages gefühlt und auf der Reise nach Canterbury vor zwei Jahren, als sie Courtenay das erste Mal aufsuchte, um ihren Mann zu verraten. Es war Montag, und es war still im Dorf, und eine innere Stimme sagte ihr, geh zurück, geh in dein Gemach und setze dich nieder und besticke einen Kleidersaum, aber betritt nicht die Kirche.
Sie öffnete die Kirchentür. Der Geruch alter, feuchter Steine schlug ihr entgegen. Die versammelte Einwohnerschaft Braybrookes
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