Die Brooklyn-Revue
Mehrzweck-Latzhose. Andererseits, sieh mal hin, wie schlank sie ist. Ich betrachte ihren Bauch, vermag aber keine Wölbung zu erkennen.»
«Deswegen trägt sie ja die Latzhose. Die ist so weit, dass man eben nichts sieht.»
Während Tom und ich noch über die Latzhose diskutierten, hielt drüben vor dem Haus der Schulbus, und die S. p. M. und ihre beiden Kleinen verschwanden kurzzeitig außer Sicht. Ich erkannte, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. In wenigen Sekunden fuhr der Bus ab, und die S. p. M. würde ins Haus zurückgehen. Ich hatte nicht vor, der Frau noch ein zweites Mal aufzulauern (es gibt Dinge, die tut man einfach nicht), und wenn das hier meine einzige Chance war, musste ich sofort handeln. Der geistigen Gesundheit meines schüchternen, liebeskranken Neffen zuliebe fühlte ich mich verpflichtet, den Bann zu brechen, unter dem er stand, den Gegenstand seiner Sehnsucht zu entmystifizieren und ihm die Frau als das vorzuführen, was sie wirklich war: eine glücklich verheiratete Brooklyner Hausfrau mit zwei Kindern und vermutlich bald einem dritten. Keine Heilige, keine unnahbare Göttin, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut, die aß und schiss und vögelte wie jede andere auch.
In Anbetracht der Umstände gab es nur eine Möglichkeit. Ich musste über die Straße und mit ihr reden. Nicht nur ein paar Worte, sondern ein richtiges Gespräch, das sich so lange hinzog, dass ich Tom rüberwinken und ihn zum Mitreden zwingen konnte. Zum allermindesten sollte er ihr die Hand geben, sie berühren, damit endlich in seinen dicken Schädel eindrang, dass sie ein greifbares Lebewesen war, keine körperlose Seele, die in den Wolken seiner Einbildung hauste. Und schon ging ich los – unbesonnen, impulsiv, ohne die leiseste Vorstellung, was ich zu ihr sagenwollte. Der Bus fuhr gerade wieder an, als ich auf die andere Straßenseite gelangte, und da stand sie auf dem Bordstein unmittelbar vor mir und warf ihren zwei Lieblingen, die sich bereits gesetzt hatten und jetzt Teil einer Schar von drei Dutzend kreischenden Knirpsen geworden waren, noch eine letzte Kusshand zu. Ich setzte mein freundlichstes, beruhigendstes Vertretergesicht auf, trat auf sie zu und sagte: «Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen eine Frage stellen?»
«Eine Frage?» Sie schien ein wenig verblüfft, vielleicht auch nur erschrocken, weil da plötzlich ein Mann vor ihr stand, wo eben noch der Bus gewesen war.
«Ich wohne erst seit kurzem hier in der Gegend», fuhr ich fort, «und bin auf der Suche nach einem vernünftigen Künstlerbedarfsladen. Als ich Sie in Ihrer Latzhose hier stehen sah, dachte ich, vielleicht sind Sie ja selbst Künstlerin. Und schon kam mir die Idee, Sie danach zu fragen.»
Die S. p. M. lächelte. Ob sie lachte, weil sie mir nicht glaubte, oder weil meine lahme Frage sie amüsierte, konnte ich nicht erkennen, aber als ich ihr Gesicht betrachtete und die Fältchen um Mund und Augen entstehen sah, erkannte ich, dass sie doch ein wenig älter war, als ich anfangs vermutet hatte. Vierunddreißig, fünfunddreißig vielleicht – nicht dass das irgendetwas ausmachte oder ihren jugendlichen Glanz in irgendeiner Weise beeinträchtigte. Bis jetzt hatte sie nur zwei Worte zu mir gesprochen –
Eine Frage
? –, aber schon in diesen vier kurzen Silben hatte ich den Tonfall eines in Brooklyn geborenen Menschen vernommen, diesen unverkennbaren Akzent, über den man sich in anderen Teilen des Landes oft lustig macht und der für mich der anheimelndste, menschlichste von ganz Amerika ist. Und als ich diese Stimme hörte, sprang in meinem Kopf der Motor an, und bis sie wieder etwas sagte, hatteich die Geschichte ihres Lebens bereits fertig entworfen. Hier geboren, das stand fest, und auch hier aufgewachsen, vielleicht sogar in ebendem Haus, vor dem sie jetzt stand. Eltern aus der Arbeiterklasse, denn die Gentrifizierung Brooklyns hatte erst Mitte der Siebziger angefangen; zur Zeit ihrer Geburt (Mitte bis Ende der Sechziger) war das Viertel noch schäbig und heruntergekommen und von mittellosen Einwanderern und Arbeiterfamilien bewohnt (das Brooklyn meiner eigenen Kindheit), und das vierstöckige Brownstone-Haus hinter ihr, das jetzt mindestens acht- bis neunhunderttausend Dollar wert war, hatte damals so gut wie nichts gekostet. Sie besucht die örtlichen Schulen, geht in der Stadt aufs College, liebt einige Männer und bricht mehr als ein paar Herzen, heiratet schließlich, und als ihre Eltern sterben, erbt sie das Haus, in dem sie
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