Die Brooklyn-Revue
Kindern sehe, möchte ich glatt wieder anfangen, an die Menschheit zu glauben. Ich weiß, das ist absurd, aber ich denke bestimmt zwanzigmal am Tag an sie.»
Ich behielt meine Gedanken für mich, aber was er da sagte, gefiel mir nicht. Tom war gerade erst dreißig, in den besten Jahren seines noch jungen Erwachsenenlebens, aber wenn es um Frauen ging, um das Streben nach Liebe, hatte er sich praktisch schon aufgegeben. Seine letzte feste Freundin war eine seiner Kommilitoninnen gewesen, Linda Soundso, aber die Beziehung war zerbrochen, sechs Monate bevor er aus Ann Arbor fortgegangen war, und seither hatte er so viel Pech gehabt, dass er sich nach und nach aus dem Verkehr gezogen hatte. Zwei Tage zuvor hatte er mir erzählt, seit über einem Jahr sei er nicht mehr mit einer Frau ausgegangen, woraus ich schloss, dass sein gesamtes Liebesleben sich jetzt auf die stumme Anbetung der S. p. M. beschränkte. Ich fand das kläglich. Der Junge musste seinenMut zusammennehmen und sich wieder auf die Suche machen. Wenn er eines brauchte, dann war es Sex – er durfte seine Nächte nicht damit verplempern, von irgendeinem glückseligen Urweib zu träumen. Sicher, ich saß mit ihm im selben Boot, aber ich kannte immerhin den Namen meiner Traumfrau, und wenn ich mit ihr reden wollte, brauchte ich nur in den Cosmic Diner zu gehen und an meinem Stammtisch Platz zu nehmen. Einem alten Knacker wie mir reichte das. Meine große Zeit war abgelaufen, ich hatte mein Vergnügen gehabt, und was aus mir wurde, war eher nebensächlich. Wenn sich die Chance ergäbe, mir noch einen Sieg an die Fahnen zu heften, würde ich nicht nein sagen, aber bei mir ging es längst nicht mehr um Leben und Tod. Bei Tom kam alles darauf an, dass er den Mut aufbrachte, sich wieder ins Getümmel zu stürzen. Andernfalls würde er weiter in der Finsternis seiner kleinen Privathölle schmachten, im Lauf der Jahre immer mehr verbittern und ein Schicksal erleiden, für das er nicht bestimmt war.
«Dieses Geschöpf würde ich gern einmal mit eigenen Augen sehen», sagte ich. «Nach deiner Schilderung kommt mir diese Frau wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt vor.»
«Jederzeit, Nathan. Komm einfach mal morgens um Viertel vor acht zu mir, dann gehen wir zusammen bei ihr vorbei. Du wirst nicht enttäuscht sein, garantiert nicht.»
Und so kam es, dass wir uns am nächsten Morgen trafen und durch Toms Lieblingsstraße in Brooklyn spazierten. Ich hielt es für übertrieben, als er von der «hypnotischen Macht» der Schönen perfekten Mutter sprach, musste aber einsehen, dass ich mich getäuscht hatte. Die Frau war in der Tat perfekt, der Inbegriff des Engelhaften und Schönen, und sie auf den Eingangsstufen ihres Hauses sitzen zu sehen, die Arme um ihre beiden kleinen Kinder geschmiegt,das konnte selbst das Herz eines alten Griesgrams in Unruhe versetzen. Tom und ich standen auf der anderen Straßenseite, diskret hinterm Stamm einer großen Robinie, und was mich an der Geliebten meines Neffen am meisten bewegte, war die vollkommene Freiheit ihrer Gesten, eine unbefangene Selbstvergessenheit, die ihr erlaubte, voll und ganz im Augenblick zu leben, in einem sich ständig entfaltenden Jetzt. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig, aber ihre Haltung war so unbeschwert und unprätenziös wie die eines jungen Mädchens, und nicht weniger erfrischend wirkte auf mich, dass eine so reizende Frauengestalt sich in weißer Latzhose und kariertem Flanellhemd auf der Straße blicken ließ. Das zeugte von Selbstbewusstsein, fand ich, von einer Gleichgültigkeit gegen das Gerede der anderen, wie sie nur die stabilsten, bodenständigsten Charaktere besitzen. Ich hatte nicht vor, meine heimliche Schwärmerei für Marina Gonzalez aufzugeben, aber dass sie nach allen objektiven Maßstäben weiblicher Schönheit der S. p. M. nicht das Wasser reichen konnte, war auch mir sofort klar.
«Ich wette, sie ist Künstlerin», sagte ich zu Tom.
«Wie kommst du darauf?», fragte er.
«Wegen der Latzhose. Maler kleiden sich habituell in Latzhosen. Schade, dass es Harrys Galerie nicht mehr gibt. Da hätten wir eine Ausstellung für sie organisieren können.»
«Könnte auch sein, dass sie wieder schwanger ist. Ich habe sie ein paarmal mit ihrem Mann gesehen. Großer Blonder mit breiten Schultern und schütterem Bart. Zu dem ist sie genauso liebevoll wie zu den Kindern.»
«Vielleicht ist sie beides.»
«Beides?»
«Schwanger und Künstlerin. Eine schwangere Künstlerinin
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