Die Brooklyn-Revue
schon als kleines Mädchen gelebt hat. Wenn es nicht exakt so war, dann immerhin sehr ähnlich. Die S. p. M. fühlte sich zu wohl in ihrer Umgebung, als dass sie eine Fremde sein konnte; sie wirkte zu zufrieden mit sich selbst, als dass sie von woanders stammen konnte. Das war ihre Straße, und sie herrschte darüber, als wäre das seit der ersten Minute ihres Lebens ihr Reich gewesen.
«Beurteilen Sie die Menschen immer nach dem, was sie anhaben?», fragte sie.
«Das war kein Urteil», sagte ich, «nur eine Vermutung. Eine dumme Vermutung, mag sein, aber wenn Sie keine Malerin oder Bildhauerin oder sonst irgendwie Künstlerin sind, ist dies das erste Mal, dass ich jemanden falsch eingeschätzt habe. Das ist meine Spezialität. Ich brauche mir die Menschen nur anzusehen, und schon weiß ich, wer oder was sie sind.»
Wieder lächelte sie, dann lachte sie laut auf. Wer ist dieser alberne Mensch, wird sie sich gefragt haben, und warumredet er so mit mir? Ich hielt es für an der Zeit, mich vorzustellen. «Ich heiße übrigens Nathan», sagte ich. «Nathan Glass.»
«Hallo, Nathan. Ich bin Nancy Mazzucchelli. Und ich bin keine Künstlerin.»
«Ach?»
«Ich mache Schmuck.»
«Das ist gemogelt. Dann sind Sie ja doch Künstlerin.»
«Die meisten Leute würden das ein Handwerk nennen.»
«Ich finde, das hängt davon ab, wie gut Ihre Arbeit ist. Verkaufen Sie die Sachen, die Sie herstellen?»
«Sicher. Ich habe einen eigenen Betrieb.»
«Ist der Laden hier in der Gegend?»
«Einen Laden habe ich nicht. Aber ein paar Geschäfte an der Seventh Avenue führen meine Sachen. Und zu Hause verkaufe ich auch manchmal was.»
«Ah, verstehe. Wohnen Sie schon lange hier?»
«Mein ganzes Leben. Hier in diesem Haus bin ich geboren und aufgewachsen.»
«Also eine waschechte Brooklynerin.»
«Ja. Bis in die Knochen.»
Da hatten wir’s: ein ausführliches Geständnis. Sherlock Holmes hatte mal wieder zugeschlagen; ich staunte über meine unerhörten deduktiven Fähigkeiten und hätte mich am liebsten in zwei Personen aufgespalten, um mir selbst auf die Schulter klopfen zu können. Ich weiß, das klingt anmaßend, aber wie oft erringt man schon einen geistigen Triumph solcher Größenordnung? Nur zwei Worte von ihr hatten mir gereicht, mitten ins Schwarze zu treffen. Wäre Watson dabei gewesen, hätte er den Kopf geschüttelt und leise vor sich hin gemurmelt.
Unterdessen stand Tom noch immer auf der anderenStraßenseite, und natürlich hätte ich ihn schon längst mit ins Gespräch ziehen sollen. Während ich mich umdrehte und ihn herüberwinkte, erklärte ich der S. p. M. , er sei mein Neffe und leite die Abteilung für seltene Bücher und Manuskripte von Brightman’s Attic.
«Harry kenne ich», sagte Nancy. «Vor meiner Hochzeit habe ich sogar mal einen Sommer lang für ihn gearbeitet. Ein prima Kerl.»
«Ja, ein prima Kerl. Solche wie ihn gibt’s heute nicht mehr.»
Ich wusste, Tom war sauer auf mich, weil ich ihn in etwas hineinzog, woran er nicht teilhaben wollte, aber er kam trotzdem rüber und stellte sich zu uns – errötend, den Kopf gesenkt wie ein Hund, der Prügel erwartet. Plötzlich gefiel mir selber nicht mehr, was ich ihm da antat, aber nun war es zu spät, die Sache zu beenden, zu spät, um Verzeihung zu bitten, und so machte ich tapfer weiter und stellte ihn der Königin von Brooklyn vor, wobei ich mir beim Grab meiner Schwester schwor, mich niemals mehr in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen.
«Tom», sagte ich, «das ist Nancy Mazzucchelli. Wir haben uns über Künstlerbedarfsgeschäfte hier in der Gegend unterhalten, aber dann sind wir auf das Thema Schmuck gekommen. Ob du’s glaubst oder nicht, sie lebt schon ihr ganzes Leben in diesem Haus.»
Ohne den Blick vom Boden zu heben, streckte Tom den rechten Arm aus und gab Nancy die Hand. «Es freut mich, Sie kennen zu lernen», sagte er.
«Nathan sagt, Sie arbeiten für Harry Brightman», antwortete sie, ohne etwas von dem folgenschweren Ereignis zu ahnen, das sich soeben zugetragen hatte. Endlich hatte Tom sie berührt, endlich hatte er ihre Stimme gehört, und gleichgültig, ob das reichte, den Bann seiner Verzauberungzu brechen, war jetzt eine Verbindung hergestellt, und das hieß, dass Tom ihr künftig auf neuer Grundlage begegnen würde. Sie war nicht mehr die S. p. M. Sie war Nancy Mazzucchelli, und so hübsch sie auch anzusehen sein mochte, sie war bloß eine gewöhnliche junge Frau, die davon lebte, dass sie Schmuck
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