Die Bruderschaft Christi
Raful erinnerte sich noch genau an die Zeit, als nahe des Toten Meeres in Khirbet Qumran die Höhlen mit den Schriftrollen erforscht worden waren. Er war damals achtzehn Jahre alt gewesen. An zwei Expeditionen war er damals beteiligt. Damals, als junger Wissenschaftler, war er fasziniert und begeistert gewesen, als man den ersten Krug geöffnet hatte und die Jesaja-Rolle zum Vorschein kam. Dann hatte die École Archéologique Française die weiteren Ausgrabungen übernommen, nachdem die Jordanische Altertumsverwaltung alle bislang gemachten Funde beschlagnahmen ließ. Die École war nichts anderes als ein Ableger der römisch-katholischen Kirche, die er über alles hasste, weil sie Schuld am Tode seiner Eltern war. Chaim Raful erinnerte sich noch zu gut daran, wie bewaffnete Soldaten der jordanischen Regierung ihr Camp stürmten und sie wie Vieh zusammentrieben, auf Lastwagen verluden und wie Schwerverbrecher hinaus in die Wüste führten. Ungenehmigte Grabräuberei warf man Chaim Rafuls Gruppe vor. Und beinahe hätte man ihnen den Prozess gemacht, hätten nicht die diplomatischen Bemühungen der Britischen Mandatsregierung gefruchtet. Man hatte ihn aus dem Land seiner Väter vertrieben, so wie man Jahre zuvor schon sein Volk in Europa vertrieben hatte, und man hatte sie ihrer Funde und ihrer Identität beraubt. Jesaja war ein Prophet seines Glaubens und niemand auf dieser Welt hatte ein Recht, sich zwischen ihn und den einzigen Gott zu stellen. Diesmal würde er es nicht so weit kommen lassen.
Er richtete seine Arbeitsleuchte aus und schob die Brille mit dem kleinen Finger auf den Nasenrücken zurück. Zweifellos war es der gleiche Verschluss wie bei der Amphore damals in Khirbet. Er griff nach einem Flachmeißel. Die Masse war derart ausgehärtet, dass er befürchten musste, der Rand würde Schaden nehmen, wenn er zu fest schabte. Ein Schweißtropfen rann über seine Stirn. Nachdenklich warf er einen Blick auf die Uhr, die über der verschlossenen Tür hing. Es war kurz vor Mitternacht. Er griff zu einem Messer und setzte es erneut am Verschluss der Amphore an. Mit ein wenig Druck gelang es ihm, einen Teil der steinharten Masse aus Teer und Harz abzuschaben. In diesem Tempo würde es die ganze Nacht dauern, bis er endlich das Geheimnis der Amphore lüften konnte. Dennoch, er musste sich die Zeit nehmen, denn er brauchte die intakte Amphore, damit man seine Ergebnisse nicht wieder zerreden konnte, so wie damals, als er ein paar ausgesuchten Wissenschaftlern den ersten Wandteller präsentierte. Als plumpe Fälschung hatte man die Applike bezeichnet. Diesmal mussten sie ihm einfach glauben.
Erneut löste sich unter dem Druck des Meißels ein Teil der Masse von der Amphore. Fein säuberlich fing er den Staub und die kleinen Brocken in einer Schale auf. Jetzt hatte er genügend Material für eine Altersbestimmung, um auch noch die letzten Zweifler zu überzeugen.
Plötzlich fuhr er zusammen. Ein lauter Schlag, draußen auf dem Flur. Er horchte auf. Wer konnte nur dort draußen sein? In diesem abgeschiedenen Teil des Rockefeller Museums gab es keine Wachmänner. Der Westtrakt beinhaltete lediglich einige ausgemusterte Labors und eine Halle für den kleinen Fuhrpark, bestehend aus einem Traktorrasenmäher und einem kleinen Lastwagen.
Chaim Raful hatte sich bewusst in den Westflügel zurückgezogen. Hier konnte er ungestört arbeiten.
Erneut ertönte ein Knarren. Rafuls Hand umklammerte den Meißel. Langsam schlich er auf die Tür zu. Er hatte sie verriegelt. Niemand konnte so einfach hier hereinspazieren. Er legte sein Ohr gegen das Türblatt und lauschte. Für einen Augenblick meinte er, Schritte auf dem Flur gehört zu haben. Machte vielleicht doch der Wachmann seine Runden?
Die Schritte verklangen. Chaim Raful atmete auf. Plötzlich hörte er ein Flüstern vor der Tür. Eilends wandte er sich um und hetzte auf seinen Arbeitstisch zu. Mit beiden Händen ergriff er die Amphore und hastete weiter. Durch den kleinen Gang verschwand er im Nebenraum. Dann flog unter einem lauten Krachen die Labortür auf. Raful rannte wie noch nie in seinem Leben. Durch eine Seitentür gelangte er ins Freie und spurtete auf den nahen Zaun zu. Sein Herz raste, und das Blut pochte in seinen Adern. Nur einmal wandte er sich um, bevor er durch eine Seitentür im Zaun in der Dunkelheit verschwand. Er lief weiter, immer weiter. So weit ihn die Füße trugen, bevor er sich in eine dunkle Ecke zwischen zwei Häusern zwängte. Sie waren
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