Die Bruderschaft der Runen
in den Chroniken meines Ordens behauptet.«
»Aber weshalb wissen unsere Gegenspieler nichts davon?«
»Das ist eines der Rätsel, die ich bislang noch nicht vollständig ergründen konnte«, gestand der Ordensmann ein. »Offenbar gingen wichtige Kenntnisse in den Wirren des Jakobitenaufstands verloren. Soweit wir wissen, hatte zuletzt ein junger Clansmann aus dem Norden das Runenschwert in seinem Besitz. Es heißt, es wurde nach Edinburgh gebracht, wo es im Zug der Krönungszeremonie an James VII. von Schottland hätte überreicht werden sollen. Dazu ist es jedoch nie gekommen.«
Sir Walter nickte. »Ein Jahr nach der Einnahme von Edinburgh wurden die Jakobiten unter der Führung des jungen Charles Stewart bei Culloden vernichtend geschlagen. Edinburgh wurde von den Regierungstruppen zurückerobert, und die Jakobitenbewegung war damit faktisch am Ende.«
»Genauso war es. Und in jenen Tagen, als in den Straßen der Stadt Kämpfe zwischen Jakobiten und Soldaten der Regierung tobten, ging das Schwert verloren. Wir gehen davon aus, dass die Sektierer es versteckten, damit es nicht in englische Hände fällt. Wohin es gebracht wurde, wissen wir allerdings nicht.«
»Aber Sie vermuten, dass es noch hier in der Nähe sein könnte.«
»Was wir uns erhoffen, ist ein Hinweis, eine Spur, der wir folgen können. Schon viele Gelehrte unseres Ordens haben diesen Ort in Augenschein genommen, aber nichts gefunden. Nun ruhen unsere Hoffnungen auf Ihnen, Sir Walter.«
»Dann will ich sehen, was ich für Sie tun kann. Aber ich will Ihnen nichts versprechen, mein lieber Abt. Wenn Ihre Gelehrten nichts gefunden haben, welche Hoffnung sollte da wohl ich hegen?«
»Ihre Bescheidenheit in allen Ehren«, erwiderte Abt Andrew mit mildem Lächeln, »aber sie ist hier völlig fehl am Platz. Sie haben bewiesen, dass Sie ein Mann von messerscharfem Verstand sind, Sir Walter, und Ihre Beharrlichkeit hat mir in den letzten Wochen manches Kopfzerbrechen bereitet.«
»Dann schulde ich Ihnen diesen Gefallen schon als Wiedergutmachung«, gab Sir Walter zurück und griff nach einem der Kerzenleuchter, um damit die Wände abzuschreiten. Quentin tat es ihm gleich und folgte ihm, auch wenn er keine rechte Vorstellung hatte, wonach sein Onkel suchte.
»Die Wände wurden bereits abgeklopft?«, erkundigte sich Sir Walter.
»Allerdings. Es wurden keine Hohlräume oder dergleichen gefunden.«
»Und der Fußboden?« Sir Walter deutete auf die morschen Planken.
»Auch er wurde eingehend untersucht. Man fand weder das Schwert noch einen Hinweis auf seinen Verbleib.«
»Verstehe …« Nachdenklich schritt Sir Walter weiter den Raum ab, leuchtete in jede Nische und begutachtete die von schweren Holzbalken getragene Decke. »Wir werden uns jede Etage einzeln vornehmen«, entschied er. »Und wenn wir damit fertig sind, werden wir die Etagendecken untersuchen. Notfalls werden wir dieses Haus Stein für Stein auseinander nehmen, um …«
»Onkel!«
Quentins Ruf unterbrach Sir Walter in seinen Ausführungen. Noch vor ein paar Wochen hätte er seinen Schützling wohl dafür zurechtgewiesen, aber inzwischen hatte der Junge bewiesen, dass er ein guter und wertvoller Mitarbeiter war und es sich durchaus lohnen konnte, ihm Gehör zu schenken.
»Was ist, mein Junge?«, fragte Sir Walter deshalb.
Quentin war stehen geblieben und betrachtete den gemauerten Kamin an der Rückseite des Schankraums. Oberhalb der Kaminöffnung war ein aufrecht stehender Löwe in den Stein gemeißelt – das Wappentier von Robert the Bruce und der Familie Stewart, die es von ihm übernommen hatte. Zwar hatte der Zahn der Zeit schon arg daran genagt, doch schien Quentin etwas entdeckt zu haben, auf das er aufgeregt deutete.
»Sieh dir das an, Onkel«, forderte er. Sogleich gesellte sich Sir Walter zu ihm, und im Schein der Kerzen erkannte er, was sein Neffe meinte.
In das königliche Wappen waren Runen eingeritzt.
Es war die Wirklichkeit, die sie erlebte!
Diese Erkenntnis war so schrecklich, dass Mary of Egton den Mund zu einem panischen Schrei öffnete. Jedoch kam kein Ton über ihre Lippen. Das Entsetzen war so groß, dass es ihr die Kehle zuschnürte und jeden Laut im Keim erstickte.
Die ausdruckslosen, rußgeschwärzten Fratzen, die von allen Seiten auf sie starrten, waren nicht die Ausgeburt eines weiteren Albtraums, sondern so wirklich wie sie selbst. Nicht nur, dass Mary sie alle sehen konnte – sie konnte auch den keuchenden Atem der Männer hören und hatte den
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