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Die Bruderschaft des Feuers

Die Bruderschaft des Feuers

Titel: Die Bruderschaft des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfredo Colitto
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machen.
    Daher hatte Mondino beschlossen, in den wenigen Tagen, die ihm noch von der zugestandenen Woche blieben, seine gesamte Kraft der Suche nach dem verschwundenen Leichnam zu widmen. Er sah auf, bemerkte Andolfos erhobene Hand und erteilte ihm die Erlaubnis zu sprechen.
    »Das ist ungerecht«, sagte der Ire sofort in seinem singenden Latein. »Uns Doktoranden entsteht durch die vorgezogene Unterbrechung wahrscheinlich ein schwerer Nachteil.«
    Auch Odofredo meldete sich zu Wort. »Es ist nicht richtig, den Magister der Ungerechtigkeit zu beschuldigen«, sagte er, sobald auch ihm erlaubt wurde zu sprechen, »aber dieses eine Mal stimme ich mit Andolfo zumindest inhaltlich überein, wenn auch nicht in der Form. Was können wir tun, damit die Unterrichtspause sich nicht schädlich auf unser abschließendes  examen  auswirkt?«
    Mondino war im Begriff, Andolfo eine scharfe Antwort zu geben und ihm einen weiteren Strafzoll wegen Respektlosigkeit aufzuerlegen, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass die beiden recht hatten. An diesem Freitag stand ihnen die  disputatio  bevor, die sie zu Ärzten machen würde, und obwohl dies eine reine Formalität war, weil kein Magister unvorbereitete Studenten vor das Dozentenkollegium treten ließ, wusste Mondino doch, dass bei seinen Schülern die Prüfungen meist strenger ausfielen, was der Tatsache geschuldet war, dass Mondino an der Universität zahlreiche Feinde hatte. Diese vertraten immer wieder die Ansicht, es sei sinnlos, menschliche Leichen zu sezieren, und argumentierten dabei, für den wissenschaftlichen Fortschritt genüge es, diese Praxis an Schweinen durchzuführen.
    Nach kurzer Überlegung nickte Mondino daher und sagte: »Ihr beide habt recht.« Im Hörsaal wurde es mit einem Mal vollkommen still. Es kam nicht oft vor, dass ein  magister medicinae  sich eine Respektlosigkeit wie die von Andolfo gefallen ließ und ihm sogar noch recht gab. Inzwischen dachte Mondino schnell über verschiedene Lösungsmöglichkeiten nach und blieb dann bei der einzigen, die ihm unter den gegebenen Umständen durchführbar schien. »Ihr beide könnt von morgen bis Freitag jeden Nachmittag zu mir nach Hause kommen. Wir werden dort keinen formellen Unterricht abhalten, aber ihr könnt mir freie Fragen zu den Materien stellen, in denen ihr euch am unsichersten fühlt. Diese Privatstunden werden dasselbe kosten wie die öffentlichen«, sagte er und kam damit Andolfos Frage zuvor, die dem schon auf den Lippen lag, »aber anstatt beim Pedell werdet ihr sie bei Mastro Pietro bezahlen, einem Mann meines Vertrauens. Messer Andolfo wird dem Pedell fünf Soldo als Strafe für seine Respektlosigkeit von vorhin geben, in dem Wissen, dass er bei der nächsten auf unbestimmte Zeit von der Schule suspendiert wird. Nun könnt ihr gehen.«
    Andolfo wollte noch etwas sagen, doch dann überlegte er es sich und schwieg lieber. Odofredo musste sich sichtlich anstrengen, ernst zu bleiben, und alle Schüler verließen nach einer leichten Verbeugung zum Pult geordnet den Raum. Andolfos Verbeugung fiel besonders lang und elegant aus, und während Mondino seinen gesenkten Kopf mit der von roten Haaren umgebenen Tonsur betrachtete, begriff er, dass in der kirchlichen Denkweise des Iren diese übermäßige Höflichkeit eine weitere offenkundige Respektlosigkeit war. Aber für diesmal wollte er darüber hinwegsehen.

    Der Mann mit der Kapuze, der sich Pater nannte, gab ein Zeichen, und die beiden Statthalter vom Rang eines  leo  ließen den Kandidaten der dritten Weihestufe, der des  miles , eintreten. Der Mann hatte das rituelle Fasten befolgt und die Krypta nicht vom Tempelsaal her betreten, sondern über den sogenannten »Weg der Eingeweihten«. Auf dieser Strecke hatte er drei Prüfungen bestehen müssen, wovon die letzte durchaus tödlich hätte enden können: Die in den Fels gehauene Treppe durchschnitt auf der Hälfte eine tiefe Grube, die dem Adepten gezeigt wurde. Dann fesselten die Statthalter ihm die Hände mit Hühnerdarm und verbanden ihm die Augen, und so musste er dann über den Abgrund auf die andere Seite der Treppe springen, die in die Krypta hinabführte. Wäre er fehlgetreten, hätten die spitzen Felsen am Boden ihn aufgespießt.
    Giovanni da San Gimignano hatte dieselbe Prüfung vor knapp einem Jahr bestanden und konnte daher bestens diese Mischung aus Erstaunen und Triumph nachvollziehen, die er in den Augen des Neueingeweihten las. Er näherte sich ihm mit erhobenem Schwert, nahm

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