Die Brücke am Kwai
jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
»Der englische Soldat besitzt in der Not eine unerschöpfliche Charakterstärke«, sagte Warden schließlich.
»Haben Sie noch andere Dinge festgestellt?« fragte Shears.
»Die Offiziere, die englischen Offiziere, Sir! Sie arbeiten nicht. Sie kommandieren ihre Leute, die sich mehr um sie zu kümmern scheinen als um ihre Wachposten. Sie tragen ihre Uniform.«
»Ihre Uniform!«
»Mit allen Rangabzeichen, Sir. Ich habe sämtliche Ränge feststellen können.«
»Donnerwetter!« rief Shear aus. »Die Thailänder haben uns bereits darauf aufmerksam gemacht, aber ich habe es nicht glauben wollen. In den anderen Lagern haben sie alle Gefangenen ohne Ausnahme arbeiten lassen . Waren auch höhere Offiziere dabei?«
»Ein Oberst, Sir. Sicherlich der Oberst Nicholson, von dem wir ja wissen, daß er sich dort unten befindet und den man im Anfang gleich nach seiner Ankunft gefoltert hat. Er hat die Baustelle nicht verlassen. Zweifellos liegt ihm daran, an Ort und Stelle zu sein, um sich gegebenenfalls zwischen seine Leute und die Japaner zu stellen; denn es muß zwangsläufig zu Zwischenfällen gekommen sein . Wenn Sie das Benehmen dieser Wachposten gesehen hätten, Sir! Wie verkleidete Affen sehen die Burschen aus! Sie haben eine Art, die Füße über den Boden zu schleifen und einherzuschlenkern, die nichts Menschliches mehr an sich hat… Oberst Nicholson indessen bewahrt eine erstaunlich würdevolle Haltung . Ein wirklicher Chef, Sir, soweit ich es sehen konnte.«
»Es gehören schon eine kaum übliche Autorität sowie seltene Charaktereigenschaften dazu, um unter solchen Verhältnissen die Moral aufrechtzuerhalten«, sagte Shears. »Auch ich ziehe meinen Hut vor ihm.«
Es hatten sich noch weitere erstaunliche Dinge im Laufe dieses Tages getan. Er fuhr in seinem Bericht fort, denn es drängte ihn, die beiden anderen an seiner Überraschung und Bewunderung teilnehmen zu lassen.
»Einmal zum Beispiel hat ein Gefangener, der zu einem weit entfernt arbeitenden Trupp gehörte, die Brücke überquert, um mit dem Obersten zu sprechen. Er hat in einem Abstand von sechs Schritten stramm gestanden, Sir, und das in seiner seltsamen Aufmachung. Und es wirkte gar nicht lächerlich. Ein Japaner ist brüllend herangekommen und hat mit seinem Gewehr herumgefuchtelt, wie mit einem Dreschflegel. Der Mann hatte gewiß ohne Erlaubnis seinen Trupp verlassen. Der Oberst Nicholson hat den Wachposten nur auf eine gewisse Art angesehen, Sir. Mir ist nichts von dem Vorfall entgangen. Und der Soldat hat nicht weiter auf seiner Forderung bestanden und ist gegangen. Es ist unglaublich! Aber es kommt noch besser; kurz ehe es Abend wurde, ist ein japanischer Oberst auf die Brücke gekommen; wahrscheinlich war es dieser Saito, der uns als ein furchtbarer Rohling geschildert worden ist.
Also schön, ich lüge jetzt nicht, Sir, er hat sich dem Obersten Nicholson in einer respektvollen Haltung genähert… in einer tadellos respektvollen Haltung. An gewissen Einzelheiten konnte man es deutlich sehen. Der Oberst Nicholson hat als erster gegrüßt, aber der andere hat überstürzt . und fast furchtsam den Gruß erwidert; ich habe genau hingesehen. Dann sind sie Seite an Seite miteinander weitergegangen. Der Japaner machte den Eindruck eines Untergebenen, dem man Befehle gibt. Es hat mir von Herzen wohlgetan, das zu sehen, Sir.«
»Nun, ich kann auch nicht gerade sagen, daß ich darüber böse wäre«, murmelte Shears vor sich hin.
»Auf das Wohl des Obersten Nicholson«, sagte Warden plötzlich und hob sein Glas.
»Auf sein Wohl, Sie haben recht, Warden, und auf das Wohl der fünf- oder sechshundert Unglücklichen, die wegen dieser verfluchten Brücke in dieser Hölle leben müssen!«
»Trotzdem ist es schade, daß er uns nicht helfen kann.«
»Kann sein, daß es schade ist, aber Sie kennen unsere Grundsätze, Warden, wir müssen allein und unabhängig handeln… Aber sprechen wir noch ein wenig von der Brücke.«
Sie sprachen den ganzen Abend immer wieder von der Brücke und studierten fieberhaft die Skizzen von Joyce, wobei sie ihn alle Augenblicke baten, irgendeine Einzelheit genauer zu erklären, was er ohne Zögern tat. Er hätte aus dem Gedächtnis jedes einzelne Stück der Brückenkonstruktion zeichnen und jeden Strudel des Flusses schildern können. Sie fingen an, über den Plan zu sprechen, den er entworfen hatte, und stellten eine Liste aller notwendigen Operationen auf, wobei sie eine jede
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