Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
und Ramita mit Huriya in einem kahlen Zimmer allein gelassen, dessen Einrichtung lediglich aus zwei Schlafpritschen bestanden hatte. Huriya war sofort eingeschlafen, aber Ramita hatte stundenlang wach gelegen in ständiger Furcht, Meiros könne an die Tür klopfen. Aber er war nicht gekommen, und Ramita hatte sich seltsam leer gefühlt, unerfüllt. Die Prüfung, auf die sie sich so sorgfältig vorbereitet hatte, schwebte immer noch drohend über ihr. Irgendwann war sie eingeschlafen, und als sie aufwachte, blutete sie.
»Du menstruierst während des vollen Mondes«, kommentierte Meiros, als sie ihm am nächsten Morgen davon erzählte. »Also bist du während des wachsenden Mondes fruchtbar, in der zweiten Woche jedes Monats.«
Das war am Shanivaar gewesen, Sabadag in seiner Sprache, dem wöchentlichen Feiertag, und Meiros hatte die beiden Mädchen von Lem zu einem nahe gelegenen Tempel bringen lassen. Als sie zurückkamen, war beinahe alles gepackt gewesen. Huriya hatte gestrahlt. »Wir brechen bald auf, sagt Jos!« Mit Jos meinte sie anscheinend Hauptmann Lem. Huriya war fasziniert von seiner Bärenstatur und dem kahl rasierten Schädel. Ramita fand ihn widerlich.
Inmitten all der Geschäftigkeit waren Ramitas Eltern mit ihren Kleidern und anderen Besitztümern aufgetaucht. Huriyas Sachen hatten sie auch mitgebracht. Selbst mit den Hochzeitsgeschenken war es nicht viel. Sie hatten den letzten Klatsch ausgetauscht, wer auf dem Hochzeitsfest was zu wem gesagt hatte, wer sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte, und Ispal hatte davon gesprochen, nach einem neuen Heim direkt am Fluss zu suchen. Nach einem Haus mit Marmorböden. Es hatte alles vollkommen unwirklich geklungen.
Ispal war sehr erfreut darüber gewesen, dass seine pflichtbewusste Tochter die Familie so reich gemacht hatte, aber er hatte nicht nur Gutes zu berichten. Er machte sich Sorgen um Jai. »Nachdem du fort warst, ist er gegangen und seitdem nicht mehr nach Hause gekommen«, hatte er nachdenklich erzählt.
»Er hat laute Reden geschwungen, wie viel männlicher die Religion der Amteh doch sei als die der Omali. Das gefällt mir nicht«, hatte Tanuva gesagt. »Sie sind beide noch so junge Hitzköpfe, er und Kazim. Wer weiß, was sie anstellen?«
Die letzten kostbaren Minuten hatten sie mit belanglosem Geplapper verbracht. Was die Zukunft bringen mochte, hatten sie konsequent vermieden. »Ich werde für euch beiden beten, immer«, hatte Tanuva ihr mit feuchten Augen zugeflüstert. »Ich werde euch jede Sekunde vermissen. Lass nicht zu, dass dieser furchtbare Greis dich schlecht behandelt, Mita.«
Ob furchtbarer Greis oder nicht, ihre Eltern verneigten sich tief vor Meiros, nachdem er von irgendeiner Erkundung zurückgekehrt war, und hörten gar nicht auf, sich bei ihm zu bedanken. Ramita fand die Szene unwürdig und peinlich, dennoch hatte sie geweint, als ihre Eltern schließlich gingen.
Das war jetzt fünf Tage her, und seitdem war die kleine Karawane auf schlechten und noch schlechteren Straßen in Richtung Norden unterwegs. Zwei Kutschen, eine für die Mädchen und eine für Meiros, und zwei Wagen für die Vorräte. Meiros’ Männer begleiteten sie zu Pferd. Eine Kutschfahrt war der reinste Albtraum, wie Ramita feststellen musste. Es war unbequem, und ständig wurde ihr und Huriya schlecht. Nachdem sie zwei Tage hintereinander das Frühstück gleich wieder erbrochen hatten, hatten sie beschlossen, die Morgenmahlzeiten ganz wegzulassen und sich stattdessen mit Flüssigkeit zu begnügen. Auf das Abendessen stürzten sie sich umso gieriger.
Am Tag zuvor hatten sie einen heruntergekommenen Tempel besuchen dürfen. Alle Kinder aus dem Dorf waren zusammengelaufen und hatten sie angestarrt wie ein Krähenschwarm, der darauf wartete, dass die erhoffte Beute endlich stirbt. Für heute hatte Meiros ihnen etwas Besseres versprochen: Sie würden die Nacht im Hawli eines Freundes verbringen und ein paar Tage dortbleiben.
Meiros’ Freund stellte sich als Raja heraus, eine Persönlichkeit, deren Bekanntschaft eine Ankesharan normalerweise niemals machen würde. Er lebte in einem Palast mit riesigen Gärten. An der Außenmauer standen mehrere Hütten für die Bediensteten. Es gab keine Kanalisation, und der Gestank war fürchterlich, aber hinter den Mauern lag ein Paradies aus grünen Wiesen, marmornen Brunnen und Statuen und Birken, die sich sanft in der Brise wiegten. Der Raja war ein dicklicher Mann mit einem unglaublich langen Schnauzbart, der
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