Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
werdenden Wunsch verspürte, überhaupt irgendwo dazuzugehören.
Gab es einen Ort, an den sie wirklich gehörte? Dieser hier war es sicher nicht, wo sie eine Hellhäutige vom westlichen Kontinent unter den dunkelhäutigen Bewohnern des Ostens war und das Gegenteil all dessen, was von einer Frau erwartet wurde. Sie war nicht verheiratet, und sie war eine Kriegerin. In Javon sollte eine Frau möglichst früh heiraten und sich fortan im Haus ihres Mannes aufhalten. Außerdem war sie Magierin, hier, wo Magie als Werk Shaitans galt. Und trotz alledem war hier der Ort, an dem sie sich am meisten zu Hause fühlte.
Sie war groß gewachsen und kleidete sich wie ein Mann. Ihr Körper war sehnig, die Muskeln kantig und hart. Ihr Gesicht war von Sonne und vielen Kämpfen gezeichnet, das ausgebleichte Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und ihre hellblauen Augen blickten ständig hin und her, als sie sich aus dem Turmfenster des Palasts von Brochena lehnte. Die Nesti hatten ihr diese Kammer als Übungsraum überlassen. »Egal wo, ich möchte nur einen guten Ausblick haben«, hatte sie gesagt. Und was sie bekommen hatte, war ein Ausblick auf die Stadt, die Wüste, die Berge und das Firmament, unverstellt in alle Himmelsrichtungen. Javon war ein hartes, aber großzügiges Land, voll harter, aber großzügiger Menschen.
Einen Moment lang wünschte sie sich, sie könnte hierbleiben, nachdem alles vorüber war. Doch sie wusste, das war unmöglich. Sie hatte die Wüste vom ersten Augenblick an geliebt. Der Sand rührte etwas in ihr an, eine Leere in ihrem Innern. Ich werde dieses Land vermissen, sogar den Gestank der Märkte, wo die Männer an die Wände pissen und der Unrat einfach liegen bleibt, bis er von selbst verrottet; wo es als Brennstoff nur Tierkot gibt und wo die Menschen in einem Fluss baden, der aussieht wie ein Abwasserkanal. Doch schon hing der Duft von frischem Kaffee in der Luft, selbst hier oben konnte sie ihn riechen. Die bunten Farben der Seidenstoffe, das Rufen der Händler und der allgegenwärtige Gesang der Priester … all das würde sie niemals mehr loslassen.
Sie nippte an einer Tasse gewürzten Kaffees und versuchte, sich ihre feuchtkalte, düstere Heimat vorzustellen. Es ging nicht. Brochena war viel zu lebendig für solche Gedanken. Die Luft war kalt, über der Wüste hing noch immer morgendlicher Nebel, vermischt mit dem Rauch der vielen Lagerfeuer. Der Winter nahte, aber die Tage waren immer noch heiß. Die Regenzeit war für das Jahr 927 vorbei, die nächsten Tropfen würden erst im kommenden Julsven fallen. Doch bis dahin würde auch die nächste Mondflut eingesetzt haben, die Leviathanbrücke würde sich aus dem Meer erheben, und Urte würde mit einem weiteren Krieg überzogen werden.
Sie wollte sich gerade abwenden, als eine Rotdrossel mit hellem Tschilpen vom Himmel heruntergeschossen kam und vor ihr auf dem Fenstersims landete. Der Vogel wehrte sich nicht, als sie ihn in die Hand nahm und die Nachricht aus dem Säckchen holte, das an seinem Bein hing. Sie sah Gurvon Gyles Siegel auf dem Beutel, und sein Gesicht blitzte vor ihrem inneren Auge auf: schmal, hart, ernst. Mein Geliebter. Kann ich ihn überhaupt noch so nennen, jetzt, da ich ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen habe? Mein Vorgesetzter, jedenfalls. Der Hüter und Verwalter meiner Zukunft .
Beinahe hätte sie die kleine Rolle eingesteckt, ohne sie zu lesen. Sie wollte nicht wissen, was darin stand. Aber das wäre töricht gewesen. Mit einem tiefen Atemzug faltete sie das Zettelchen auseinander. Der Inhalt war kurz und prägnant. Trag dein Amulett. Mehr war auch nicht nötig: Diese drei Worte sagten alles. »Trag dein Amulett«, war Gurvons Art, auf freundliche Weise zu sagen: »Der Zeitpunkt zum Handeln steht kurz bevor, pack deine Sachen und halte dich bereit, jeden Moment zu verschwinden.«
Sie machte eine kurze Bestandsaufnahme: Das Schlafzimmer war bis auf die kleine Truhe mit ihrer Kleidung so gut wie leer, dann hatte sie noch die Geschenke der Königsfamilie – ein paar Jhafi-Schals und einen Bekira – und ihr Schwert. Das türkisfarbene Amulett, mit dem sie die Gnosis kanalisierte, trug sie um den Hals. Alles in allem nicht viel. Sie besaß zwar auch Gold – mehr als die meisten in einem ganzen Leben überhaupt verdienen konnten –, aber das hatte sie Gurvon anvertraut.
Sie kannte Gurvon Gyle seit 909, damals war sie einundzwanzig gewesen. Als Halblut-Tochter von Eltern, die beide ebenfalls
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