Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
gemischten Blutes waren, hatte sie 906 ihren Schulabschluss gemacht, zu spät, um am ersten Kriegszug nach Hebusal teilzunehmen. Ihre ältere Schwester Tesla war damals dabei gewesen und wäre beinahe getötet worden. Elena war unterdessen den Volsai des kaiserlichen Geheimdienstes beigetreten. Als 909 abzusehen war, dass es zu einem Aufstand kommen würde, war sie wie alle in Noros geborenen Agenten desertiert und hatte sich der Königlich-Norischen Armee als Späherin angeschlossen. Gurvon Gyle, der gerade erst vom Kriegszug zurückgekehrt war, war ihr Hauptmann. Man merkte ihm an, dass er schon einiges erlebt hatte, und er verfügte über einen zynischen Charme, der sie zum Lachen brachte. Und im Gegensatz zu den meisten anderen behandelte er sie nicht von oben herab. Die gemeinsamen Einsätze hatten sie zusammengeschweißt. In einer feuchtkalten Nacht, damals lagerten sie irgendwo nördlich von Knebb, war Elena nach einem von Betillons Massakern in Gurvons Zelt geschlichen und hatte festgestellt, dass er sie genauso brauchte wie sie ihn.
Der Revolte haftete ein eigenartiger Glanz an, sie hatte sich angefühlt wie ein Triumph, auch wenn sie fehlgeschlagen war. Trotz allem, was Elena getan und gesehen hatte – und egal wie furchtbar es war, es zuzugeben –, sie hatte jene Tage geliebt. Magister-General Robler hatte mit seiner Armee Rondelmars zahlenmäßig weit überlegenen Truppen eine Reihe vernichtender Niederlagen beigebracht, die mittlerweile als mustergültig für die Kriegsführung galten. Gyles Graue Füchse waren wie Helden behandelt worden, die Dörfler versteckten und versorgten sie, und eine Weile hatte es so ausgesehen, als würden die Aufständischen den Sieg davontragen. Aber die von den umliegenden Königreichen versprochene Hilfe kam nicht, die geheimnisvollen Magi, die Garanten für den Sieg, verschwanden einfach, die norischen Legionen wurden isoliert und aufgerieben. Vults Armee ergab sich bei Lukhazan, und Roblers Truppen saßen, gerade als der Winter einsetzte, in den Hochtälern in der Falle. Sie starben wie die Fliegen, bis Robler kapitulierte.
Die Zeit nach der Revolte war für Elena ein einziger Albtraum gewesen. Nach zwei Jahren in ständiger Lebensgefahr war es ihr unmöglich, den Weg zurück in die Normalität zu finden, weshalb sie sich Gyles neu gegründetem Bund von Magusspionen angeschlossen hatte. Offiziell beschützten sie zahlungskräftige Kunden, aber ihre eigentliche Aufgabe war etwas anderes, viel Schmutzigeres: Spionage und Meuchelmorde. In Rondelmar setzte man alles daran, auch noch den letzten Kollaborateur der Noros-Revolte aufzuspüren, und plötzlich hatte Elena sich auf der anderen Seite wiedergefunden und jagte die Feinde des Kaiserreichs. Eine Weile belastete sie das, aber sie lernte, nicht darauf zu achten. Sie ging, wohin Gurvon sie schickte, und tötete, wen immer er befahl. Ihr Gewissen starb, und ihr Herz wurde zu Stein. Sie schlitzte rechtschaffenen Männern die Kehle auf und ermordete Unschuldige, weil sie etwas gesehen hatten, das nicht für ihre Augen bestimmt war. Ihr Leben war zu einem sich ständig verändernden Gespinst aus Lügen und Täuschung geworden. Nichts zählte mehr außer dem Gold, und schließlich hatte sie ihr Weg hierhergeführt, zu dem einträglichsten Auftrag von allen: Sie sollte den javonischen König und seine Familie während des kommenden Kriegszugs beschützen. Tatsächlich beschützen . Sie hatte sich nicht einmal einen falschen Namen zulegen müssen – das erste Mal seit Jahren.
Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie sich wieder erinnerte, dass sie mehr war als nur eine tödliche Waffe. Aber die Kinder hatten es schließlich geschafft – mit ihrem entwaffnenden Vertrauen, mit ihrem aufrichtigen Lächeln und ihren albernen Spielen, die ihr das Lachen wieder beigebracht hatten. Vier Jahre waren es jetzt, in denen sie sich endlich wieder lebendig gefühlt hatte, gemerkt hatte, dass das Leben mehr sein konnte als nur verrinnende Tage. Und jetzt das.
Trag dein Amulett …
Verdammt! Ich gehöre hierher, Gurvon!
Sie ließ die Rotdrossel wieder frei und verbannte die vergiftete Nachricht aus ihren Gedanken. Dann wärmte sie sich auf für ihr morgendliches Training. Staub wirbelte auf und schimmerte in den ersten Lichtstrahlen, die den dunklen Raum erhellten. Die entfernte Melodie der Gottessänger und das Gekrächze der Krähen wurden immer leiser, je tiefer sie sich konzentrierte. Sie dehnte sich, trat und schlug in die Luft
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