Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Außerdem nutzte er die Einsamkeit, um ein paar Dinge über das Steuern von Windschiffen nachzulesen. Es war schwieriger, als er gedacht hatte.
»Wenn du das alles gleich gelesen hättest, hätten wir uns den Absturz wahrscheinlich sparen können«, hatte Cym vor ihrer Abreise zu ihm gesagt.
»Aber so lernen wir Männer nun mal«, hatte er sich verteidigt.
Seine alles erdrückende Schwermut hatte sich wie in Luft aufgelöst. Ein Ziel vor Augen zu haben tat Alaron unendlich gut, aber noch mehr genoss er die Gesellschaft Gleichgesinnter: von Menschen, mit denen er sich austauschen, gemeinsam an etwas arbeiten, mit ihnen lachen oder traurig sein konnte. Und wenn die Gesellschaft nur in einer Tasse Tee und einem Stück Kuchen mit Gredken bestand.
Das Bernsteinamulett setzte er nur sparsam und unter größter Vorsicht ein. Nicht allzu weit entfernt waren die Übungsplätze der Legionen, massenweise strömten Soldaten und Kriegsgerät nach Noros, und alles machte sich bereit für den großen Marsch nach Pontus. Alaron war einer der wenigen, die nicht zu den sechs von Noros entsandten Legionen gehören würden. Aber er war eigenartig glücklich damit, das Skiff zu reparieren und das zarte Pflänzchen zu nähren, das da gerade aus den Trümmern seines alten Lebens wuchs.
Die Frühlingsregenfälle würden den ganzen Nachmittag nicht aufhören, weshalb Alaron keine Gelegenheit mehr haben würde, seine Reparaturen zu testen. Er legte eine Hand auf den Kiel, schloss die Augen und ließ Energie in das Holz strömen. Hätte er die Augen offen gelassen, hätte er gesehen, wie das Holz im schummrigen Licht sanft leuchtete.
Als er jedoch spürte, wie ein feiner Strom Luftgnosis aus dem Schiffsrumpf nach seiner Hand leckte, riss er die Augen schlagartig auf und griff instinktiv nach dem Hammer neben sich. Am anderen Ende des Windschiffs erkannte er verschwommen eine Silhouette, und sein Herz begann zu rasen.
Ihm gegenüber stand ein alter Mann, die Augen starr auf seine Hände gerichtet, die er auf den Kiel gelegt hatte. Er war groß, hielt sich aber gebeugt, das Haar auf seinem Kopf war schneeweiß und zerzaust. Abgebrochene Zweige hingen im ungestutzten Bart, und sein Blick schien ins Leere zu gehen. Die zerrissene Kleidung war übersät mit Erd- und Grasflecken. Er sah aus, als habe ihn jemand durchs Unterholz hierhergeschleift. Als Alaron näher hinsah, erkannte er, dass es sich bei der Kleidung um nicht mehr als ein Nachthemd handelte, außerdem war der Greis bis auf die Knochen durchnässt.
»Bei Kore, wer seid Ihr, und wo kommt Ihr bei diesem Helwetter her?«, keuchte Alaron eher erstaunt als vor Angst.
»Mmngh!«, stammelte der alte Mann und zuckte zusammen, als sei er erschrocken, seine eigene Stimme zu hören. »Mmngh!« Er schlug sich eine Hand vor den Mund und ließ sich auf die Knie sinken.
»Wer … Alles in Ordnung, Herr?« Alaron schnappte sich eine Satteldecke und eilte auf den Mann zu. »Hier, lasst mich Euch helfen.«
Der Greis blickte auf, das Gesicht verzerrt vor Angst. »Gggnhh!« Dann verdrehte er die Augen und brach bewusstlos zusammen.
»Gredken!«, rief Alaron. »Ich brauch hier deine Hilfe!«
Wüstenstürme
Ingashir
Während die Bauern die trockene Erde bearbeiten, halten andere sich in den Hügeln versteckt und beobachten sie. Zum geeigneten Zeitpunkt stürmen sie herunter, töten die Bauern und machen sich selbst zum Herrscher über das Land. Nach und nach vergessen sie, woher sie einst kamen, während schon wieder andere sich in den Hügeln verstecken …
Beobachtungen aus Antiopia , Quintus Gardien, 872
Von Nordlakh nach Kesh, Antiopia
Shawwal (Okten) 927 bis Safar (Februx) 928
9–5 Monate bis zur Mondflut
Ein Wagen kam ratternd ins Lager gefahren, und innerhalb von Sekunden war er umringt von jungen Männern, die wie die Schakale um die kleinen Säcke kämpften, die die Soldaten zu ihnen hinunterwarfen. Einer versuchte, auf den Wagen zu klettern – er bekam den Schaft eines Speers ins Gesicht und fiel wie ein Käfer zurück in die rücksichtslos anstürmende Menge. Kazim kämpfte nicht weniger verbissen als die anderen. Das letzte Mal, dass er etwas gegessen hatte, lag zwei Tage zurück. Es waren nur ein paar Mundvoll Kichererbsenbrei gewesen. Er schlug einem Jungen auf den Hinterkopf und schnappte sich dessen Ration, dann drängte er weiter nach vorn, duckte sich unter dem herabsausenden Speerschaft hindurch und angelte noch drei Säckchen vom Wagen. Taumelnd kämpfte er sich
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