Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
größten Hoffnungen. Nach einer Weile hatte sich das Skiff schließlich komplett aus der Brise herausgedreht, aber das schwere Heck drehte es noch ein Stück weiter, bis der Wind direkt von vorn kam. Was war in so einem Fall noch mal zu tun? , überlegte Alaron und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Das Segel wurde gegen den Mast gedrückt, dann blähte es sich wieder, diesmal aber in umgekehrter Richtung, und sie trieben rückwärts, was das Steuerruder vollkommen nutzlos machte.
»Alaron, tu was!«, brüllte Cym und zeigte wild auf das Haus hinter ihm, wo das große Fenster des Atelierraums bedrohlich im Sonnenlicht glitzerte.
»Verdammt, wir müssen runter!«, rief er und versuchte, den Kiel zu entladen, aber die Gnosis darin war noch zu stark, er konnte sie nicht schnell genug abfließen lassen.
Cym eilte zum Mast und machte sich hektisch am Segel zu schaffen, aber dadurch wurde das Skiff nur hecklastig und kippte achtern bedrohlich weit nach unten. Mit einem Aufschrei fiel Cym auf Alarons Schoß, während ihre Sippe mit offen stehenden Mündern beobachtete, wie der Mast das erste Dachfenster einschlug.
»Rukka! Geh wieder nach …« Vom Aufprall durchgeschüttelt, fiel Cym hintenüber und krachte mit dem Hinterkopf gegen Alarons Stirn. Inzwischen kippte das Skiff schon wieder in die andere Richtung. Das Steuerruder zerschmetterte das Atelierfenster, genau an der Stelle, an der Alarons Mutter immer gesessen hatte, und der im Dachstuhl verkeilte Mast brach. Holz- und Glassplitter regneten auf die beiden herab und rissen das Segel in Fetzen. Alaron schlang die Arme um Cym in dem Versuch, sie beide vor dem Trümmerhagel zu schützen. Der Rumpf bohrte sich immer tiefer in das Haus, direkt hinein in ein altes Ölporträt des Grafen Gracyn Anborn, bis er endlich mitten in dem verwüsteten Zimmer liegen blieb.
Gredken streckte kurz den Kopf zur Ateliertür herein, schrie laut auf und verschwand. Vor dem Haus herrschte Totenstille.
Alaron vergrub das Gesicht in Cyms Haar und betete, dass in Wahrheit nichts von alledem geschehen war. Cym roch nach Nelken und Patschuli. Sie fühlte sich warm und fest an. Vielleicht war das alles tatsächlich nur ein Traum …
»Alaron, lass mich los, du Idiot«, fauchte Cym ihn an. Sie schob sich von ihm weg und kam schwankend auf die Beine. »Rukka mio!«
Alaron hob den Kopf und sah sich um. Das Atelier war ein einziges Schlachtfeld. Der abgebrochene Mast hing baumelnd an ein paar Spannseilen und ragte durch das zerschmetterte Fenster nach draußen. Überall lagen Glasscherben.
Cym sank auf die Knie. Ihre Schultern bebten, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis Alaron merkte, dass sie lachte.
Aber die ganze Arbeit … Ihm war eher nach Weinen als nach Lachen zumute. Da spürte er, wie eine Art Gurgeln in seiner Kehle aufstieg, etwas zwischen Schluchzen und Jauchzen. Er gab jeden inneren Widerstand auf, ließ sich neben Cym auf den Boden sinken und wartete, bis der hysterische Lachanfall vorüber war.
»Cym?«, brachte Alaron schließlich unter den neugierigen Blicken der Kindergesichter hinter dem eingeschlagenen Fenster heraus, »glaubst du, dein Vater will es immer noch kaufen?«
Er wollte natürlich nicht, aber sie gingen im Guten auseinander. »Meine Tochter wird Eurem Sohn auch beim nächsten Versuch helfen«, versprach Mercellus dann. »Das war besser als jede Zirkusvorführung!«
Alles in allem fühlte Alaron sich gar nicht mal so schlecht. Natürlich war es das reinste Desaster gewesen, und Cyms Sippe hatte sich halb totgelacht, aber Cym hatte einen Arm um ihn gelegt und ihn auf die Wange geküsst. »Das nächste Mal sorgen wir dafür, dass alles klappt«, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert. Und das war mehr wert als alles Gold Urtes.
Alaron saß allein vor den Stallungen des Landhauses und starrte hinaus in den strömenden Regen. Es war Ende Februx, und sein Vater war wieder auf Reisen. Cym war ebenfalls fort. Sie hatte ihre Sippe irgendwohin in die nördlichen Tiefebenen begleitet. Der Wind stöhnte im Dachgebälk wie ein Sterbender im Hospiz, die Bäume ächzten, und ihre Äste peitschten im Wind. Seit Wochen hatte er keinen anderen Menschen zu Gesicht bekommen als Gredken, aber das war ihm nur recht, denn so konnte er sich umso besser auf das Skiff konzentrieren. Sie hatten beschlossen, es an Ort und Stelle zu reparieren, wo die Gefahr, entdeckt zu werden, geringer war. Die Verwüstungen am Haus reparierte er gleich mit, zusammen mit den Winterschäden.
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