Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)
Meisterstratege, hatte sich das Beste natürlich bis zum Schluss aufgehoben. Mit großer Geste hob er die Hand und verkündete: »Ein Geschenk Seiner Heiligkeit Kaiser Constants an das Volk von Noros.« Vult lächelte wohlwollend und hob nun auch die andere Hand.
Alle beugten sich nach vorn.
Hinter einer Säule kam königlichen Schrittes, als hätte er nie etwas anderes getan, Malevorn Andevarion hervor. Vorsichtig trug er die Standarte der neunten norischen Legion, der berühmten und allseits verehrten Bergfüchse unter Roblers Kommando – eine der vielen, die während der Revolte verloren gegangen waren.
Die Menge keuchte laut auf.
Malevorn stellte sich vor der versammelten Kirchengemeinde auf, und alle verstummten. Dann brach der lauteste und ehrlichste Jubel aus, den die alten Gemäuer je zu hören bekommen hatten.
Alaron drehte sich wieder nach seinem Vater um, und diesmal kam auch sein Jubel von Herzen – Vann Merser hatte unter diesem Banner gekämpft.
Hinter Malevorn kam Francis Dorobon mit dem Silberfalken der sechsten Legion, Gron Koll mit dem Grauen Wolf der dritten, und Boron Funt trug die Gebirgsblume der achten. Als Letzter kam Seth Korion und gab dem Volk von Noros den Wegstern zurück, das Banner von Vults Armee, das bei Lukhazan verloren gegangen war.
Als die fünf Halbwüchsigen die Standarten nach draußen auf die Stufen vor der Kathedrale trugen, waren Regen und Kälte vergessen. Der Stolz Norosteins war wiederhergestellt, der Kaiser liebte die Norer also wirklich, seine getreuen Untertanen. Vann Merser weinte haltlos wie viele der anderen älteren Männer auch. Die Veteranen , schoss es Alaron durch den Kopf. Es waren ihre Banner .
Ab jetzt konnte Vult gar nichts mehr falsch machen. Als er nach draußen ging und sich zwischen den Bannern postierte, bejubelte die Menge ihn, so laut sie nur konnte. Zufrieden beobachtete er, wie die Männer um die vorderen Plätze in den Schlangen vor den Rekrutierungsständen kämpften. Es goss immer noch wie aus Eimern, aber niemand nahm mehr Notiz davon – die Finsterlichtfeier war doch noch ein richtiger Festtag geworden.
Die fünf Bannerträger ritten auf der Welle der Begeisterung, und Alaron hörte, wie gestandene Männer sie mit »unser Stolz« und »die Hoffnung von Noros« anriefen, obwohl drei von ihnen nicht einmal Norer waren. Aber auch er selbst und Ramon bekamen etwas von dem Ruhm ab und wurden immer wieder ehrfürchtig gefragt, welcher Legion sie sich denn anschließen würden. Sie blieben noch eine Weile auf dem Platz, aber die neuerliche Aufmerksamkeit wurde schnell lästig, und irgendwann konnte Ramon den überschäumenden Patriotismus der Massen nicht mehr ertragen. »Von der Revolte wart ihr Idioten bestimmt genauso begeistert, und jetzt seht, was es euch gebracht hat«, murmelte er. Sie suchten Alarons Vater und überredeten ihn, schnell zu verschwinden.
»Was hältst du von der Rede des Gouverneurs?«, fragte Alaron ihn auf dem Nachhauseweg. Morgen würden er und Ramon sich wieder im Zauberturm einfinden müssen, aber für diese eine Nacht durften sie nach Hause.
Vann Merser strich sich übers Kinn. Er war groß und immer noch kräftig gebaut, trotz eines kleinen Speckrings um die Taille, wie Männer mittleren Alters ihn sich gerne zulegten. »Nun, Sohn, ich weiß, was ich denke. Aber wie steht’s mit dir?«
Alaron sammelte seine Gedanken. Vann hielt ihn stets an, sich seine eigenen zu machen. »Tja, Vult hat behauptet, der Kaiser würde uns lieben, aber wir haben uns erst vor wenigen Jahren gegen ihn erhoben. Wie kann er uns da lieben?«
»Zumindest eure Steuern wird er lieben«, warf Ramon ein.
»Du warst schon mal in Kesh, Pap, und du hast immer gesagt, die Leute dort seien fast genauso wie wir. Dass Hautfarbe nichts damit zu tun hat, ob jemand gut oder schlecht ist. Aber Magister Fyrell hat uns erklärt, wenn zwei Volksgruppen aufeinandertreffen, kämpfen sie so lange, bis eine der beiden ausgelöscht ist. Er sagt, das sei das Gesetz der Natur.« Bei den letzten Worten rümpfte er angewidert die Nase.
»Ist das der Unterricht, für den ich so viel Geld bezahle?« Vann schüttelte traurig den Kopf. »Was sagst du dazu?«
Alaron dachte einen Moment lang nach. »Nun ja, die Magi behaupten zwar, sie hätten die Gnosis direkt von Kore bekommen, aber jedermann weiß, dass man mit dieser Gabe geboren wird … Ich habe zumindest noch nicht viele fromme Magi gesehen«, fügte er hinzu und dachte an Malevorn und seine
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