Die Brücke der Gezeiten 1: Ein Sturm zieht auf (German Edition)

Kumpane.
    »Die Banner zurückzugeben war nur ein Köder, damit sich möglichst viele Männer für die Armee einschreiben«, erklärte Ramon mit einem Funkeln in den Augen. »Am letzten Kriegszug hat so gut wie kein einziger Norer teilgenommen.«
    »Also war das Ganze nur ein Trick, um an neue Soldaten zu kommen«, überlegte Alaron. »Aber warum hat der Kaiser 904 überhaupt Soldaten über die Brücke geschickt? Hat er sich nicht dumm und dämlich verdient am Zoll und an den Steuern der Händler?«
    Vann zog an seiner Pfeife. »Was erzählen sie euch denn im Zauberturm?«, beantwortete er Alarons Frage mit einer Gegenfrage.
    Ramon schnaubte. »Sie erzählen uns, Kore habe dem Kaiser eine Vision geschickt, dass er die Welt vor den Heiden retten solle.«
    Vann lächelte dünnlippig. »Der älteste Trick der Welt: Behaupte einfach, dein Gott sei der einzig wahre, und schon ist der Rest der Welt von Natur aus böse. Ich war damals dabei, in einem der ersten Windschiffe über Hebusal. Den Tag werde ich nie vergessen.«
    Und auch nie darüber reden , dachte Alaron. Es war der Tag, an dem seine Frau, Alarons Mutter, ihr Augenlicht verloren hatte.
    Doch zu seiner Überraschung sprach Vann weiter: »Die Kommandanten der Windschiffe erzählten uns, der Sultan habe seine Armee zusammengezogen, um sie über die Brücke zu entsenden. Sie behaupteten, wir müssten unsere Händler vor dem sicheren Tod retten. Wir wussten nicht, ob das stimmte. Es war die Zeit, zu der die ersten bankrotten Magusfamilien begannen, in Händlerfamilien einzuheiraten. Gegen eine stattliche Mitgift natürlich. Der Osten hatte eine Menge Kaufleute sehr reich gemacht, und die traditionelle Gesellschaftsordnung war gefährdet. Manche glaubten, der einzige Weg, diesen Prozess aufzuhalten, sei, den Handel mit dem Osten zu unterbinden.«
    Alaron wartete auf mehr, aber sein Vater verstummte. Er zog nur ab und zu an seiner Pfeife, und Ramon lutschte ein Karamellbonbon. Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück. Alaron versuchte sich vorzustellen, wie es gewesen war damals in Kesh, wo sein Vater seine Mutter kennengelernt, sich in sie verliebt und ihr das Leben gerettet hatte.
    »Merser! Pass gefälligst auf!«, bellte Fyrell.
    Alaron blinzelte. Verdammt. »Verzeihung, ich denke nur gerade über Vektorrechnung nach.« Er und Ramon hatten sich fast die ganze Nacht unterhalten und von ihrer Zukunft nach dem Schulabschluss geträumt, aber jetzt waren sie wieder hier zwischen den moosbewachsenen Wänden des Zauberturms. Die Schule befand sich in den Gemäuern eines alten Schlosses, mindestens vierhundert Jahre alt. Magister Fyrell, den er von allen Lehrern am wenigsten mochte, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und bombardierte die Klasse aufs Geratewohl mit Fragen, um den Stoff zu wiederholen. Alaron hatte schon eine ganze Weile lang nicht mehr zugehört.
    »Netter Versuch, Meister Merser«, erklärte Fyrell herablassend, »aber Infinitesimalrechnung hatten wir letztes Jahr. Wovon wir hier sprechen, ist Zaubertheorie.«
    Wie peinlich.
    »Soll ich die Frage wiederholen?«
    Die fünf Reinen kicherten, und Ramon lehnte sich kopfschüttelnd zurück.
    Alaron wurde rot. »Bitte. Es tut mir leid, Magister.«
    Fyrell rollte die Augen und fuhr sich über den schwarzen Kinnbart. »Nun gut. Wir wiederholen den Stoff für die Prüfungen – du hast sie doch nicht vergessen, oder? Ich habe dich gebeten, die vier Klassen der Gnosis und deren Definition aufzuzählen. Eine recht simple Frage, würde ich meinen. Glaubst du, du könntest das für uns tun, Meister Merser?«
    Alaron seufzte erleichtert. Puh, das ist einfach . Er stand auf. »Die Gnosis ist in vier Klassen unterteilt. Die erste ist die Thaumaturgie, die sich mit allem Greifbaren und Unbelebten beschäftigt, mit den Elementen. Die vier Teilgebiete der Thaumaturgie sind Feuer, Wasser, Erde und Luft. Die zweite ist die Hermetik. Hier geht es um das Greifbare und Belebte wie wir selbst und unsere Mitmenschen. Die vier Teilgebiete der Hermetik sind Heilkunst, Morphismus, Animismus und Sylvanismus. Theurgie beschäftigt sich mit dem Nichtgreifbaren und Belebten. Mithilfe der Gnosis bedienen wir uns der unsichtbaren Kräfte und stärken damit zum Beispiel unsere eigene Gnosis, heilen die Geister der Lebenden, treiben Wahnsinn aus, besänftigen Menschen oder manipulieren ihre Gefühle. Die vier Teilgebiete der Theurgie sind Spiritismus, Mystizismus, Mesmerismus und Illusionismus. Die letzte Klasse ist die Zauberei,