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Die Brücke

Die Brücke

Titel: Die Brücke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Banks
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konventionellere Worte. Er sah keine
Tränen in ihren perfekt geschminkten Augen.
    Der Gottesdienst war kurz und überraschend geschmackvoll. Der
Geistliche war ein persönlicher Freund des Rechtsanwalts
gewesen, und bei seiner knappen, aber offenbar aufrichtigen Lobrede
wurden ihm die Augen feucht. Ich muß alt werden, dachte er,
oder ich trinke zuviel von dem harten Stoff und werde weich. Der
Mann, der ich vor zehn Jahren war, hätte nur ein
Hohnlächeln dafür gehabt, daß mich die Worte eines
Geistlichen zum Ruhm eines Rechtsanwalts der oberen Mittelklasse
beinahe zu Tränen rühren.
    Trotzdem. Nach dem Gottesdienst sprach er mit Mrs. Cramond. Wenn
er sie nicht besser gekannt hätte, dann hätte er geglaubt,
sie stehe unter Drogen. Sie schien zu glühen, ihre Augen waren
groß, ihre Haut glänzte vor einer aus dem Tod geborenen
Kraft – ein tränenloses Erstaunen, ein Schockzustand,
hervorgerufen durch den Verlust des Mannes, der für die
Hälfte ihres Lebens die Hälfte ihres Lebens gewesen war,
etwas jenseits der Unmittelbarkeit der Trauer. Es erinnerte ihn an
den Augenblick nach einer Verletzung, wenn das Auge schon gesehen
hat, wie der Hammer den Finger zermalmte oder die ausrutschende
Klinge ins Fleisch fuhr, aber bevor das Blut fließt und das
Schmerzsignal das Gehirn erreicht. Sie war jetzt in diesem
Zwischenreich, dachte er, eingetaucht in das ölig-ruhende Meer
im Auge des Sturms. Am nächsten Tag wollte sie abreisen und mit
einer Schwester in Washington/DC Urlaub machen.
    Das Letzte, was sie zu ihm sagte, war: »Wollen Sie sich um
Andrea kümmern? Sie haben sich so nahegestanden; sie will nicht
mit mir kommen. Wollen Sie sich um sie kümmern?« Er
antwortete: »Wenn sie es sich gefallen läßt… Da
ist übrigens jemand in Paris, vielleicht…«
    »Nein.« Mrs. Cramond schüttelte entschieden einmal
den Kopf (eine Geste, die die Tochter geerbt hatte; plötzlich
erkannte er die eine in der anderen). »Nein, Sie sind es.
Sie.« Sie drückte ihm die Hand und stieg dann in den
Bentley ihres Sohnes. »Sie sind jetzt der, der ihr am
nächsten steht«, flüsterte sie.
    Er blieb eine Weile verwirrt stehen, dann machte er sich auf die
Suche nach Andrea. Sie war draußen auf dem Parkplatz, lehnte
sich an die schwarze Daimler-Limousine eines Bestattungsinstituts.
Gerade zündete sie sich eine More mit Menthol an. Stirnrunzelnd
trat er auf sie zu. Du solltest das nicht tun, sagte er zu ihr, denk
an deine Lungen. Sie sah ihn mit zerknittert wirkenden Augen an.
»Das ist Solidarität«, erklärte sie bitter.
»Mein alter Herr raucht in diesem Augenblick auch.« Ein
kleiner Muskel in ihrem Unterkiefer zitterte. »Oh, Andrea«,
sagte er, plötzlich von Mitleid für sie erfüllt. Er
streckte die Hand nach ihr aus, aber sie zuckte zurück, wandte
sich von ihm ab und zog ihren schwarzen Mantel dichter um sich. Vor
ein paar Jahren hätte diese Abweisung ihn verletzt, und
wahrscheinlich hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht. Jetzt
wartete er, und sie kam zu ihm zurück, warf die More auf den
Kies und trat sie mit einem schwarzen Schuh aus. »Bring mich weg
von hier, Kid«, sagte sie. »Beam mich nach oben, Scotty! Wo
ist der Porsche? Ich habe ihn nicht gesehen.«
    Sie fuhren mit dem Saab nach Gullane. Andrea wollte die Stelle
sehen, wo er gestorben war. So hielten sie an dem immer noch
aufgerissenen Grasstreifen und der noch nicht reparierten Mauer. Er
beobachtete im Rückspiegel, wie sie dastand und auf die Narben
im Boden niederblickte, als erwarte sie, das Gras werde vor ihren
Augen nachwachsen. Sie berührte die gefurchte Erde und die
Steine der Mauer, dann kehrte sie zu dem Wagen zurück, rieb sich
Steinstaub und Erde von ihren blassen, manikürten Fingern. Sie
erzählte ihm, ihr Bruder halte sie für morbid, weil sie
hatte herkommen wollen. »Das glaubst du nicht von mir, nicht
wahr?« Er sagte, nein. Sie fuhren weiter zu dem kalten, leeren
Haus auf den Dünen mit dem Blick auf den Firth.
    Sobald sie die Tür im Rücken hatten, drehte sie sich um
und umarmte ihn. Als er versuchte, sie zart und behutsam zu
küssen, rammte sie ihren Mund gegen seinen, ihre
Fingernägel gruben sich in seine Kopfhaut, durch sein Jackett in
seinen Rücken, durch die Hose des schwarzen Anzugs in seine
Hinterbacken. Sie gab einen wimmernden Laut von sich, den er noch nie
von ihr gehört hatte, und zog ihm das Jackett von den Schultern.
Er hatte sich gerade entschlossen, zwar auf diese verzweifelte,
qualvolle erotische Reaktion einzugehen,

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