Die Brücken Der Freiheit: Roman
Löwin. Er hätte sie sehr gerne mitgenommen, aber die Flucht zu zweit war wesentlich schwieriger als für einen Mann allein.
»Bleib noch eine Weile hier, Esther«, sagte er. »Wenn ich irgendwo Fuß gefaßt habe, schreibe ich dir. Und sobald ich Arbeit habe, spare ich Geld und lasse dich holen.«
»Wirklich?«
»Aye!«
»Spucke und schwöre!«
»Spucken und schwören soll ich?« Als Kinder hatten sie damit ihre Abkommen besiegelt.
»Ja, ich will es!«
Es war ihr anzusehen, daß sie es ernst meinte. Er spuckte in die Rechte, streckte sie über den Brettertisch und nahm ihre harte Hand in die seine.
»Ich schwöre, daß ich dich holen lasse.«
»Danke«, sagte sie.
Kapitel 6
FÜR DEN FOLGENDEN MORGEN war eine Hirschjagd geplant, und Jay beschloß, sich daran zu beteiligen. Er wollte töten.
Er frühstückte nicht, stopfte sich aber die Taschen mit Whisky Butties - kleinen, in Whisky getränkten Haferbällchen - voll. Dann ging er hinaus und sah nach dem Wetter. Es wurde gerade hell. Zwar zeigte sich der Himmel in trübem Grau, aber die Wolkendecke war hoch, und es regnete nicht. Das Büchsenlicht würde ausreichen.
Er setzte sich auf die Treppen vor dem Schloß und versah den Schießmechanismus seines Gewehrs mit einem neuen keilförmigen Feuerstein, den er mit einem Pfropf aus weichem Leder befestigte. Wenn ich ein paar Hirsche abknalle, legt sich vielleicht meine Wut, dachte er.
Jay Jamisson war stolz auf seine Waffe, einen Vorderlader mit Steinschloß, gefertigt vom Büchsenmacher Griffin in der Bond Street. Der spanische Lauf war mit Silbereinlagen geschmückt. Das Gewehr war der einfachen Brown Bess, mit denen seine Männer ausgerüstet waren, weit überlegen. Er spannte das Schloß, visierte einen Baum auf der anderen Seite des Rasens an und stellte sich vor, er ziele auf einen stattlichen Hirsch mit ausladendem Geweih. Er nahm eine Stelle auf der Brust, gleich hinter der Schulter, aufs Korn, dort, wo das große Herz des Tiers schlug.
Dann wechselte das Phantasieziel: Auf einmal hatte er Robert im Visier, den sauertöpfischen, sturen Robert, geizig und unermüdlich, wie er war, mit dunklem Haar und wohlgenährtem Gesicht. Jay drückte ab. Der Feuerstein schlug auf den Stahl und rief einen ordentlichen Funkenregen hervor, aber in der Pfanne war kein Pulver und im Lauf keine Kugel.
Jay lud das Gewehr mit ruhiger Hand. Mit Hilfe der Meßeinrichtung im Schnabel seines Pulverhorns füllte er genau zweieinhalb Drachmen Schwarzpulver in den Lauf. Dann nahm er eine Kugel aus der Tasche, wickelte sie in einen Leintuchfetzen und schob sie hinterher. Schließlich löste er den Ladestock aus seiner Arretierung unter dem Lauf und stopfte die Kugel soweit wie möglich in den Lauf hinein. Die Kugel war einen halben Zoll breit. Damit konnte man auf eine Entfernung von fast hundert Metern einen ausgewachsenen Hirsch zur Strecke bringen: Sie würde Roberts Rippen zerschmettern, seine Lunge zerreißen, den Herzmuskel aufschlitzen… Binnen Sekunden wäre er tot.
»Hallo, Jay!« Das war die Stimme seiner Mutter.
Er stand auf und gab ihr einen Begrüßungskuß. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie am vergangenen Abend seinen Vater verflucht hatte und davongestürmt war. Jetzt wirkte sie müde und traurig.
»Du hast schlecht geschlafen, wie?« fragte er mitfühlend.
Sie nickte. »Ja, die Nacht war ziemlich schlimm.«
»Armes Muttchen.«
»Ich hätte deinen Vater nicht so verdammen dürfen.«
Jay zögerte. »Du mußt ihn doch mal geliebt haben irgendwann…«
Alicia seufzte. »Ich weiß es nicht. Er sah gut aus, war reich, war ein Baronet. Ja, ich wollte seine Frau sein.«
»Aber jetzt haßt du ihn.«
»Seitdem er anfing, ständig deinen Bruder vorzuziehen.«
Jay wurde wütend. »Man sollte eigentlich meinen, daß Robert sieht, wie unfair diese Behandlung ist.«
»Ja, im Grunde seines Herzens weiß er es gewiß, da bin ich mir ganz sicher. Aber Robert ist ein äußerst habgieriger junger Mann. Er will alles.«
»Das war schon immer so.« Jay erinnerte sich an die gemeinsame Jugend: Am glücklichsten war der kleine Robert immer dann gewesen, wenn es ihm gelungen war, seinem Bruder die Spielzeugsoldaten abzunehmen oder ihm seine Portion Plumpudding wegzufuttern. »Kannst du dich noch an Rob Roy erinnern, Roberts Pony?«
»Ja, wieso?«
»Als er das Pony bekam, war er dreizehn, und ich war acht. Ich sehnte mich nach einem Pony und konnte schon damals besser reiten als er. Aber er hat mich
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