Die Brücken Der Freiheit: Roman
spuckte, rang nach Luft und hustete neuerlich. So heftig war der Hustenanfall, daß ihm seine Perücke herunterrutschte und die Brille von der Nase fiel. Und da erkannte Jay sofort, daß er gar kein Pfarrer war.
Er lachte. Die anderen sahen ihn fragend an. »So seht doch!« rief er. »Seht ihr nicht, wer das ist?«
Der erste, der es erkannte, war Robert: »Gott im Himmel, das ist ja Miss Hallim. Sie hat sich verkleidet!«
Einen Augenblick lang herrschte verdutztes Schweigen. Dann begann Sir George zu lachen. Als die anderen Männer merkten, daß der Hausherr den Vorfall mit Humor nahm, stimmten sie in sein Gelächter ein.
Lizzie trank einen Schluck Wasser und hüstelte noch. Während sie sich erholte, bewunderte Jay ihr Kostüm. Die Brille hatte ihre funkelnden dunklen Augen verborgen, und die Seitenlocken der Perücke hatten teilweise ihr hübsches Profil verschleiert. Ein weißer Leinenstrumpf ließ ihren Hals dicker erscheinen und verdeckte die glatte, feminine Haut ihres Halses. Die »Pockennarben« auf ihren Wangen hatte sie mit Holzkohle oder etwas Ähnlichem aufgemalt, ebenso wie die spärlichen »Haare« auf ihrem Kinn, die den Bartflaum eines jungen Mannes vortäuschten, der sich noch nicht jeden Tag rasiert. In den düsteren Gemächern des Schlosses hatte niemand erkannt, daß es sich um eine Maske handelte.
»Wohlan, Sie haben bewiesen, daß Sie als Mann durchgehen können«, sagte Sir George, nachdem Lizzie endlich zu husten aufgehört hatte. »In einem Kohlebergwerk haben Sie trotzdem nichts zu suchen. Und jetzt holen Sie bitte die anderen Damen. Wir wollen Jay sein Geburtstagsgeschenk überreichen.«
Jay, der vorübergehend seine Beklommenheit vergessen hatte, spürte auf einmal wieder einen Kloß im Hals.
Man traf sich in der Halle. Jays Mutter und Lizzie platzten schier vor Lachen: Offenbar war Alicia in den Plan eingeweiht gewesen, wodurch sich auch ihr geheimnisvolles Grinsen vor dem Essen erklärte. Lizzies Mutter hatte nichts davon gewußt und blickte nun entsprechend pikiert.
Sir George führte die Gesellschaft durch das Hauptportal hinaus. Die Abenddämmerung hatte bereits begonnen, aber es schneite nicht mehr.
»Hier«, sagte Sir George, an Jay gewandt. »Dein Geburtstagsgeschenk.«
Auf dem Hof stand, von einem Stallknecht gehalten, das schönste Pferd, das Jay je gesehen hatte. Es war ein ungefähr zwei Jahre alter Schimmelhengst mit den schmalen Zügen eines Arabers. Vom plötzlichen Erscheinen der vielen Menschen nervös geworden, wich er ein Stück zurück, was den Stallknecht dazu veranlaßte, die Zügel schärfer anzuziehen. Ein wilder Blick lag in den Augen des Hengstes, und Jay erkannte sofort, daß dieses Pferd wie der Sturmwind galoppieren konnte.
Er war noch ganz hingerissen vor Bewunderung, als plötzlich die Stimme seiner Mutter wie ein Messer durch seine Gedanken schnitt. »Ist das alles?« fragte sie.
»Also, Alicia…«, sagte Vater. »Ich hoffe doch, du bist nicht undankbar…«
»Ist das alles?« wiederholte sie, und Jay sah, daß ihr Gesicht nur noch eine wutverzerrte Fratze war.
»Ja«, gestand Sir George.
Jay war noch gar nicht auf die Idee gekommen, daß er den Hengst anstelle der Pflanzung auf Barbados erhalten sollte. Entgeistert starrte er seine Eltern an und begriff. Seine Verbitterung war so groß, daß er kein Wort über die Lippen brachte.
Seine Mutter sprach an seiner Statt. Er hatte sie noch nie so wütend gesehen. »Das ist dein Sohn!« rief sie mit schriller Stimme. »Er ist einundzwanzig Jahre alt und hat ein Recht auf seinen Anteil - und du gibst ihm ein Pferd?«
Die Gäste beobachteten die Szene ebenso entsetzt wie fasziniert.
Sir George lief rot an. »Mir hat niemand etwas gegeben, als ich einundzwanzig wurde!« sagte er zornig. »Ich habe nicht einmal ein Paar Schuhe geerbt!«
»Ach, um Himmels willen«, erwiderte Alicia voller Verachtung. »Wir kennen diese Geschichte doch längst alle. Dein Vater starb, als du vierzehn warst, und du hast im Hammerwerk gearbeitet, um deine Schwestern zu ernähren… Das ist alles kein Grund, deinen eigenen Sohn mit Armut zu bestrafen.«
»Armut?« Sir George breitete die Hände aus. Seine Geste umfaßte das Schloß, das Gut und das herrschaftliche Leben, das sie führten. »Was für Armut denn?«
»Er braucht seine Unabhängigkeit! So gib ihm doch in Gottes Namen die Pflanzung auf Barbados.«
»Die gehört mir!« protestierte Robert.
Jay hatte sich soweit gefaßt, daß er wieder sprechen konnte.
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