Die Brücken Der Freiheit: Roman
nicht, daß eine Dame da nichts zu suchen hat.«
Jay lächelte. »Nein, das würde ich mich gar nicht trauen.«
»Ich weiß, daß Arme und Reiche, Männlein und Weiblein hingehen und sich das ansehen.«
»Aber warum willst du dahin?«
Das war eine gute Frage. Lizzies Gefühle waren gemischt. Es war nicht die feine Art, aus dem Tod einen Zeitvertreib zu machen, und sie wußte ganz genau, daß sie sich danach vor sich selbst ekeln würde. Doch ihre Neugier war stärker als alles andere. »Ich möchte wissen, wie so etwas vonstatten geht«, sagte sie. »Wie sich die Verurteilten benehmen. Weinen sie? Beten sie? Oder schlottern sie vor Angst? Und wie verhalten sich die Zuschauer? Wie ist das, wenn man mit ansieht, wie ein menschliches Leben beendet wird?«
Sie war immer so gewesen. Als sie zum erstenmal gesehen hatte, wie ein Hirsch erlegt wurde - sie war damals gerade neun oder zehn Jahre alt - , hatte sie wie gebannt zugeschaut, wie der Wildhüter den Kadaver aufbrach und ausnahm. Die verschiedenen Mägen hatten sie fasziniert, und sie hatte darauf bestanden, das Fleisch zu berühren, weil sie wissen wollte, wie es sich anfühlte. Es war warm und schleimig. Das Tier war im zweiten oder dritten Monat trächtig gewesen, und der Wildhüter hatte sie auf den winzigen Fötus in der durchsichtigen Gebärmutter aufmerksam gemacht. Nichts von alledem hatte Lizzie geekelt - es war einfach viel zu interessant gewesen.
Ihr war vollkommen klar, warum bei den Hinrichtungen so viele Menschen zusammenströmten, und sie verstand auch, daß es andere gab, denen allein bei der Vorstellung, einem solchen Spektakel beizuwohnen, übel wurde. Was sie selbst betraf, so zählte sie eben zu den Neugierigen.
»Wir könnten vielleicht ein Zimmer mieten, von dem aus man den Richtplatz überblicken kann. Das tun viele.«
Aber Lizzie fürchtete, die Sache nicht richtig mitzubekommen. »O nein!« protestierte sie. »Ich will mitten unter den Zuschauern sein.«
»Frauen unseres Standes mischen sich nicht unters Volk!«
»Dann verkleide ich mich eben als Mann.«
Er sah sie skeptisch an.
»Jay, zieh nicht so ein Gesicht! Du hast mich doch auch mit ins Bergwerk genommen!«
»Bei einer verheirateten Frau ist das ein bißchen anders.«
»Wenn das heißen soll, daß es jetzt, bloß weil wir verheiratet sind, keine Abenteuer mehr gibt, haue ich ab nach Übersee!«
»Das ist doch lächerlich!«
Lizzie grinste ihn an und sprang aufs Bett: »Sei doch nicht so ein Frosch!« Sie hüpfte auf der Matratze auf und ab. »Los, komm schon! Auf zum Galgen!«
Jay mußte unfreiwillig lachen. »Na gut!« sagte er.
»Bravo!«
Die häuslichen Pflichten waren rasch erledigt: Lizzie trug der Köchin auf, was sie zum Abendessen einkaufen sollte; bestimmte die Zimmer, die die Hausmädchen zu reinigen hatten; ließ den Pferdeknecht wissen, daß sie an diesem Tag nicht ausreiten wolle; akzeptierte dankend eine Dinner-Einladung für sich und ihren Mann am kommenden Mittwochabend bei den Marlboroughs; verschob einen Termin bei der Putzmacherin und nahm zwölf messingbeschlagene Reisekoffer für die Überfahrt nach Virginia in Empfang.
Und dann verkleidete sie sich.
In der Tyburn Street - auch als Oxford Street bekannt wimmelte es von Menschen. Der Galgen stand am Ende der Straße, am Rande des Hyde-Parks. An den Fenstern und auf den Balkons der Häuser, von denen aus man das Schafott sehen konnte, drängten sich wohlhabende Zuschauer, die eigens für diesen Tag dort Zimmer gemietet hatten. Auf der Parkmauer standen die Menschen Schulter an Schulter. Fliegende Händler verkauften heiße Würstchen und Gin und boten Schriften feil, in denen, wie sie behaupteten, die letzten Worte der Verurteilten abgedruckt waren.
Mit Cora an der Hand schob sich Mack durch die Menge. Er hatte kein Interesse daran, Menschen sterben zu sehen, aber Cora legte großen Wert darauf. Mack wollte jede freie Minute mit ihr Zusammensein, wollte ihre Hand halten, ihre Lippen küssen und ihren Körper spüren, wann immer ihm danach war. Allein sie anzusehen war eine Freude. Ihr verwegenes Temperament, ihre derbe Sprache und das lasterhafte Funkeln in ihren Augen gefielen ihm, und so hatte er sich entschlossen, sie zu der öffentlichen Hinrichtung zu begleiten.
Eine Freundin von ihr zählte zu den Delinquenten. Sie hieß Dolly Macaroni und war Bordellbesitzerin. Verurteilt war sie jedoch wegen Urkundenfälschung.
»Was hat sie denn gefälscht?« fragte Mack.
»Einen Wechsel. Er war
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