Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
über die gesamte Summe, fünfzehntausend Kronen, einräumen. Damit wäre das Problem gelöst!«
»Meinen Sie, ich soll das Heim meiner Mutter und meiner Cousinen verpfänden?«, fragte Lauritz empört und unternahm nicht einmal mehr den Versuch, seinen Zorn zu verbergen.
»Genau das meine ich«, antwortete der Bankmann, sog an seiner Zigarette und sah maßlos zufrieden aus.
»Kommt nicht infrage«, knurrte Lauritz und verspürte dabei fast körperliche Schmerzen.
»Ich bedaure es außerordentlich, Herr Lauritzen, aber dann ist unsere Unterredung leider zu Ende, zumindest für dieses Mal.«
Lauritz erhob sich und verließ wortlos das Zimmer. Als er zwei Stunden später in den Spiegel des Frisiersalons schaute, sah er sein wiederhergestelltes Städter-Ich oder zumindest das Ich, das in Kiel auftreten würde. Er bildete sich ein, dass alles die Schuld des saumseligen Friseurs sei. Wenn er in der Bank so ausgesehen hätte und nicht wie ein Arbeiter, wäre alles anders gekommen.
Diese Ausrede befriedigte ihn jedoch nicht ganz. Dieser verdammte Päderast hatte schon vorher seinen Entschluss gefasst, und keine Bartwichse der Welt hätte daran etwas
ändern können. Im Übrigen verstand er sich ohnehin nicht auf finanzielle Dinge. Er war wahrhaftig kein Betriebswirt, keiner von denen, denen laut Kjetil Haugen die Zukunft gehörte.
Die wunderbare Neuigkeit, die er nach Kiel hatte mitbringen wollen, hatte sich in Luft aufgelöst. Er hatte Ingeborg bereits eine verheißungsvolle Zukunft in Aussicht gestellt, die es jetzt nicht mehr gab. Aber nach Kiel musste er unter allen Umständen, unter anderem, weil er dem Baron versprochen hatte, als Mitsegler bei der Regatta einzuspringen, aber hauptsächlich, weil er Ingeborg treffen wollte.
XII
OSCAR
Deutsch-Ostafrika, 1905
Die Regenzeit war die Phase des Jahres, die man mit Lesen verbringen konnte. Es regnete so stark, dass keinerlei Arbeit möglich war. Man konnte sich nur in seinem Zelt auf den Rücken legen und abwarten. Ohne Lektüre wurde das schnell eintönig, und im Gegensatz zur heißen Jahreszeit konnte man sich nicht einfach aufs Bett werfen und einschlafen.
Oscar las mit Vorliebe Fachbücher, eines komplizierter als das andere, insbesondere über die moderne Betontechnik, die er bei seinen Brückenbauten verwendete. Zwischendurch lieh er sich bei Dr. Ernst auch Bücher über die Flora und Fauna Afrikas. Das Buch, das er sich von Hassan Heinrich ausgeliehen hatte, versetzte ihn wie das Wiedersehen mit einem alten Freund aus Kindertagen zurück in die Jahre auf der Technischen Knabenrealschule in Kristiania, auf die Die gute Absicht die drei Brüder Lauritzen geschickt hatte.
Soviel er wusste, war Karl May der zum Verdruss der Schulmeister meistgelesene Autor Deutschlands. Nach Ansicht der Lehrer sollten kleine Jungen, selbst jene von den
Fjorden Westnorwegens, Goethe und Schiller lesen. Vielleicht auch einen so modernen Autor wie Heinrich Heine, aber sicher nicht diesen vulgären Wildwestautor, der im Übrigen nie amerikanischen Boden betreten hatte.
Es war ein faszinierender Gedanke, dass er selbst und seine Brüder dieses Abenteuer ebenso begeistert gelesen hatten wie Hassan Heinrich und seine Mitschüler an der Missionsschule in Daressalam. Oberlehrer Mortensen in Kristiania hatte Karl Mays Der Sohn des Bärenjägers unter der Hand als Zusatzlektüre im Deutschunterricht verwendet. Old Shatterhand und Winnetou waren ein weitaus größerer Erfolg in der Klasse gewesen als Faust. Nicht nur die Sprache war einfacher, es blieben einem obendrein die Verse erspart, und außerdem war die Geschichte spannend und begreiflich. Und wenn man auf ein Wort stieß, das man nicht kannte, schlug man es mit größerem Interesse nach als eine Vokabel aus dem Faust . Mit einem Lächeln auf den Lippen las er die Geschichte, an die er sich noch in groben Zügen erinnerte, obwohl inzwischen über fünfzehn Jahre vergangen sein mussten, seit er sie zum ersten Mal gelesen hatte. Ganz wie beim Autor lagen seine Sympathien bei den Indianern, und er hatte bei den Cowboy-und-Indianer-Spielen immer der Indianer sein wollen.
Kurz vor dem Höhepunkt, dem Sieg Old Shatterhands und des Häuptlings der Apachen Winnetou, begünstigt durch einen Vulkanausbruch, der im letzten Augenblick die Feinde vernichtet, stellt der Held eine Überlegung an, die jemand, vermutlich Hassan Heinrich, dem das Buch gehörte, unterstrichen hatte:
»Der rote Mann kämpft den Verzweiflungskampf; er
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