Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
schließlich dieselbe strahlende Sonne, die seinen morgendlichen Aufbruch begleitet hatte. Diese magische Verwandlung vollzog sich innerhalb weniger Minuten.
Er drehte sich zu seiner Schneespur in der dünnen Schneedecke auf dem Eis um. Sie verlief in einer Schlangenlinie, mal nach links, mal nach rechts und wieder zurück. Er vermutete, dass er, immer wenn er stehen geblieben war, um auf den Kompass zu schauen, den Kurs korrigiert hatte. Sehr interessant.
Der Sturm zog über den zugefrorenen Ustavand hinweg, mit jeder Sekunde vergrößerte sich der Abstand, und wo eben noch Dröhnen und pfeifender Wind gewesen waren, herrschte jetzt vollkommene Stille.
Als er wieder nach vorn blickte, sah er, dass er nur zehn Meter vom Ufer entfernt war. Etwa hundert Meter weiter weg stand ein Mann, der damit beschäftigt war, einen Windschutz abzubauen. Das musste der Ingenieurskollege sein, der ihm entgegenkommen wollte. Lauritz schnallte seine Skier wieder an und fuhr kräftig ausholend auf den Mann zu.
»Guten Tag. Ich sehe, Ihnen fehlt noch ein wenig die Übung«, begrüßte ihn der Kollege zu Lauritz’ Ärger. »Ich bin Daniel Ellefsen, zweiter Ingenieur«, fuhr er fort, nahm seinen breitkrempigen Hut ab und streckte die Hand aus.
»Lauritz Lauritzen, Ingenieur«, erwiderte Lauritz zurückhaltend. In seinen Anstellungspapieren stand keine andere Bezeichnung. Dann ergriff er die ihm entgegengestreckte Hand.
Sie musterten einander. Lauritz’ Gegenüber war langhaarig wie eine Frau und braun wie ein Same. Seine Gesichtshaut erinnerte an Leder.
»Wir duzen uns hier oben«, teilte der andere mit.
»Dagegen habe ich nichts einzuwenden«, antwortete Lauritz.
Damit war die Unterhaltung zu Ende. Daniel Ellefsen packte den Windschutz ein, schnallte seine Skier an und stapfte den Weg, den er gekommen war, in seiner teilweise zugeschneiten Spur zurück. Lauritz folgte ihm, so gut es ging. Es kostete sie zwanzig Minuten harte Arbeit, zumindest Lauritz, um den Hang zum im Bau befindlichen Bahnhof von Haugastøl zu erklimmen. Das Fundament war bereits fertig, und etwa ein Dutzend Arbeiter errichtete gerade das Gerüst zum Bau der Wände. Daneben stand eine Baracke. Ein schiefer Schornstein aus schwarzem Blech qualmte anheimelnd.
»Den Rest des Weges zu Fuß«, sagte der andere knapp, schnallte seine Skier ab und deutete auf einen matschigen Pfad, der zu ihrem Quartier in Nygård führte.
»Ich kann deine Skier nehmen, du hast mehr als genug an deinem Rucksack zu schleppen«, fuhr er fort, nahm Lauritz’ Skier, warf sie sich ohne weitere Umstände zu seinen eigenen auf die Schulter und begann den steinigen, matschigen Pfad hinaufzugehen.
Lauritz wäre gerne neben ihm gegangen, um sich mit ihm zu unterhalten. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf. Der andere hielt jedoch ein so zügiges Tempo, dass Lauritz kaum mithalten konnte. In der einen Stunde, die es dauerte, um zu dem Hof hinaufzugelangen, wurde geschwiegen.
Lauritz wusste nicht recht, wie er das Schweigen deuten sollte. War es der Ausdruck eines diffusen Misstrauens gegen ihn als Neuankömmling und möglicherweise auch Vorgesetzten, der einige Jahre jünger war? Vielleicht beruhte die Einsilbigkeit aber auch auf der Umgebung, darauf, dass die übermächtige Natur die Menschen kleiner
machte. Schon bald keuchte er hörbar, was der andere nicht zu merken schien. Vielleicht war es ihm aber auch egal. Lauritz begann erneut zu schwitzen.
Nygård bestand aus einer Ansammlung niedriger Häuser mit Ausnahme eines auffallend größeren, zweistöckigen Blockhauses. Dorthin waren sie auf dem Weg.
»Es wird das Ingenieurshaus genannt«, erklärte sein Begleiter, als sie die Stiefel abgeputzt und das Gebäude betreten hatten. »Du kannst die Köchin Estrid begrüßen. Sie serviert uns um sieben Uhr das Abendessen. Ich bin verspätet, da ich unerwartet lang am Ustavand warten musste. Ich muss noch auf eine Baustelle. Gibt es noch Fragen?«
»Ja«, erwiderte Lauritz. »Wie ist es mit der Post hier oben?«
»Um diese Jahreszeit kommt der Briefträger zweimal in der Woche auf Skiern aus Haugastøl. Er trägt zwischen Geilo und Finse die Post aus.«
»Wann kommt er das nächste Mal?«, wollte Lauritz wissen.
»Morgen gegen zwei. Das hängt vom Wetter ab, aber er muss vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Finse rauf. Erwartest du bereits Post?«
»Nein, aber ich will einen Brief schreiben. Und dann noch eine Frage: Wo soll ich schlafen?«
Der andere sah ihn entschuldigend
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