Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
schaute zu Boden. »Die peinliche Wahrheit ist schlicht und einfach die, dass ich vergessen habe, dass Sonntag ist. Bei meinem Morgenspaziergang im Hafen waren alle wie gewöhnlich bei der Arbeit. Ich dachte natürlich nicht daran, dass sie Mohammedaner sind. Das war ungeschickt von mir. Ich bitte um Entschuldigung, aber so war es.«
Sein höchster Chef nickte nachdenklich.
»Ehrlichkeit ist eine unserer wichtigsten Tugenden«, sagte er. »Leider gibt es sie viel zu selten. Ich weiß sie jedoch sehr zu schätzen. Dr. Ernst hat Sie also in seine Erkenntnisse eingeweiht? Ich habe gestern wie gesagt aus reiner Neugier mit der Lektüre begonnen, aber ich muss zugeben, dass dazu eigentlich ein nüchternerer Kopf erforderlich gewesen wäre. Danach konnte ich nicht einschlafen. Verzeihen Sie mir die Indiskretion, aber uns hört ja sonst niemand zu. Heute Morgen bin ich früh aufgestanden und habe den Bericht noch einmal gelesen. Sie verstehen natürlich, was das bedeutet?«
»Natürlich!«, erwiderte Oscar. Die großen Verluste an Menschenleben, die den Eisenbahnbau erschwerten, da die Gleise durch ein Malariagebiet nach dem anderen führten, ließen sich jetzt effektiv begrenzen oder gar gänzlich abstellen.
Ermuntert von der Miene seines Gegenübers, die sowohl Erstaunen wie auch Respekt ausdrückte, kam Oscar auf die nächste Schlussfolgerung zu sprechen. Er war sich bewusst, dass er sich damit als loyaler, patriotischer und einsichtiger darstellte, als er eigentlich war. Dr. Ernsts Entdeckung brächte, fuhr er fort, wahrscheinlich enorme Konkurrenzvorteile mit sich.
Das war ein Wort, das er zum ersten Mal in den Mund nahm. Eigentlich verachtete er Finanzleute und Politiker. Gerade daher, fuhr er im selben Stil fort, habe er so ein gewichtiges Thema nicht auf einem munteren Fest anschneiden wollen.
Das war natürlich Heuchelei, kam ihm aber mühelos über die Lippen. Der Grund, warum er Dr. Ernst am Vorabend nicht erwähnt hatte, war recht einfach. Er war selbst zu geschmeichelt und viel zu betrunken für eine anspruchsvollere Unterhaltung gewesen.
»Wissen Sie, Herr Lauritzen, Sie dürfen mich in Zukunft übrigens auch gerne nur mit dem Nachnamen ansprechen … Sollen wir darauf anstoßen?«
»Danke, Herr Dorffnagel, es ist mir eine große Ehre«, sagte Oscar und hob gleichzeitig mit seinem Gastgeber und Vorgesetzten sein Bierglas.
Sie sahen einander durchdringend an, verbeugten sich steif und tranken.
»Was ich, Herr Lauritzen, gerade sagen wollte, ist, dass Sie ein junger Mann sind, dem alle Möglichkeiten offenstehen. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie in meinen Diensten stehen, obwohl es eigentlich eher Glück als Überlegung war, als ich Sie eingestellt habe. Es kommt sehr viel Gesindel hierher. Als ich mir Ihre Bewerbung jedoch näher angesehen habe, sah ich, dass Sie zu den zehn Besten in Dresden gehört haben, und damit war natürlich alles klar. Wie wollen Sie eigentlich Ihre freien Tage in Dar verbringen?«
»Ich will fischen, Herr Dorffnagel, ich stamme ja aus einer norwegischen Fischerfamilie.«
»Ausgezeichnet. Sie können jederzeit an Bord eines
unserer Fischerboote gehen. Das sind diese blauen Auslegerboote. Richten Sie einfach Grüße von der Direktion aus. Sie stechen in See, wenn die Flut … aber das wissen Sie vermutlich selbst. Noch einmal auf Ihr Wohl!«
Nachdem sie angestoßen hatten, wurde nachgeschenkt. Oscar war es recht, denn die nächste Flut kam erst nach Einbruch der Dunkelheit, und dann war es zu spät, noch rauszufahren. Das Fischen musste bis zum nächsten Tag warten.
Sie genossen ein wunderbares Mittagessen mit Fisch und Garnelen.
VII
LAURITZ
Hardangervidda, Juni bis Juli 1901
Segeln war ein wunderbares Glück. Er brauchte nur den Wind zu prüfen und wusste, wie viele Schläge er von Ustaoset nach Haugastøl benötigte. Segeln war für ihn genauso selbstverständlich wie Atmen oder Gehen. Beim Segelsetzen wusste er sofort, ob die Segelfläche zu groß war und ob gerefft werden musste, damit das Segel nicht flatterte und das Boot an Fahrt verlor. Oder umgekehrt.
Die Eisenbahngesellschaft hatte in Ustaoset drei Boote liegen, zwei Arendal-Jachten und eine Hardanger-Jacht, alle besaßen ein Großsegel mit Sprietbaum und einem Vorsegel. Für Fahrten auf dem offenen Fjord waren sie zu schmal und hoch, aber oben im Fjell hatte man die Boote immer so gebaut. Beladen wurden sie bedeutend stabiler.
Es war schönes Wetter und Sommer. Es hieß, einen solchen Sommer habe es
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