Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
Problem darin, dass eine beachtliche Schneemenge zu durchdringen war, ehe man überhaupt den Tunnelanfang erreichte. Da der Berghang Richtung Finse ein Osthang war und Schnee und Wind in der Regel von Westen kamen, lag am Fuß des Berges im Windschatten eine riesige pyramidenförmige Schneewehe, die auch im Sommer nicht abschmolz. Das hieß, dass sie sich bis zum Berg vorgraben mussten. Das konnte unerwartet schwierig werden. In den Schneemassen herrschte Permafrost. Hatte man Pech, war der Schnee mit Sand und Steinen vermischt. Mit Schneeschaufeln war gegen solch betonharten Schnee
nichts auszurichten, da musste man schon zu Spitzhacken und Brechstangen greifen. Das konnte seine Zeit dauern.
Lauritz baute das Stativ mit dem Theodoliten auf, bestimmte den höchsten und den niedrigsten Punkt der pyramidenförmigen Schneewehe und anschließend die Punkte, die am nächsten und am weitesten entfernt lagen. Anschließend zog er seinen Rechenschieber aus der Tasche und stellte eine rasche Berechnung an. Die anderen sahen ihm schweigend dabei zu, was ihn nervös machte. Sicherheitshalber und entgegen seiner Gewohnheit rechnete er zweimal nach, kam aber wie zu erwarten zum selben Ergebnis.
»Ich komme auf eine Schneemenge von neunzigtausend Kubikmeter«, teilte er mit. »Ein Arbeitertrupp von sechzehn Leuten würde etwa … wenn wir berücksichtigen, dass es sich um ungewöhnlich hart gefrorenen Schnee handelt … zwölftausend Kubikmeter in einem Sommer, also in ungefähr sechzig Arbeitstagen, schaffen. Im nächsten Winter fällt wieder Schnee. Die gesamte Schneemenge lässt sich also nie ganz beseitigen.«
»Nein, das versteht sich«, meinte Skavlan. »Jetzt stell dir einen sechs Meter breiten Einschnitt in der Schneewehe vor, was ergibt sich dann?«
Lauritz griff erneut zum Rechenschieber. Er war ungewohnt verlegen, als würde er von einem Lehrer geprüft.
»Dann könnte es gehen«, meinte er nach einer Weile. »Für einen solchen Hohlweg durch den Schnee müsste man zwischen elf-und zwölftausend Kubikmeter Schnee wegräumen. Vorausgesetzt natürlich, dass einen im Innern der Schneewehe nicht irgendwelche Überraschungen erwarten.«
»Lustig«, meinte Skavlan. »Du kommst zu demselben
Ergebnis wie wir bei der Direktion. Mit dem Unterschied, dass wir sehr viel länger gebraucht haben.«
Sie packten ohne weitere Kommentare ihre Ausrüstung zusammen und kehrten zu der halb fertigen Baracke in Finse zurück.
»Was ist mit Dynamit? Man könnte eine Lawine auslösen«, meinte Lauritz, nachdem sie eine Weile durch den Tiefschnee gestapft waren.
»Eher nicht«, erwiderte Skavlan keuchend, was Lauritz erstaunt, aber mit einer gewissen Schadenfreude registrierte. »Das Problem ist, dass der Schnee an manchen Stellen zu hart ist, an anderen wieder zu porös. Solchen Schnee kann man nicht sprengen, weil sich die Wirkung der Sprengladung nicht berechnen lässt, und dieser Bau hat bereits ein Dutzend Menschenleben gekostet. Ich wünsche bei Gott, dass es dabei bleibt.«
Am Hang Richtung Finse und in den Tälern sahen sie Kolonnen von Pferdeschlitten. Zur Mittsommerzeit erfolgten die Transporte meist nachts, weil dann der Schneematsch gefror und die Schlitten besser vorankamen. Lauritz erfuhr, dass es sich um Baumaterial handelte, Bretter, Ziegel für Hausfundamente, Zement und Sand. Dazu Lebensmittel. Später im Sommer, wenn man trockenen Fußes nach Finse gehen konnte, kamen die Hausierer und Branntweinhändler.
Es hatte zu dämmern begonnen, die schwache Dämmerung Ende Juni, und sie wollten in der Arbeiterbaracke nicht stören, obwohl sie dort sicher ein Abendessen bekommen hätten. Stattdessen betraten sie ihre Ingenieursbaracke, in der es still und kalt war, und rollten, jeder in einem Winkel, ihre Rentierschlafsäcke aus. Dann setzten
sie sich an einen provisorischen Tisch, den ihnen die Arbeiter freundlicherweise zusammengezimmert hatten, bevor sie zu Bett gegangen waren. Sie aßen dasselbe wie zuvor, Rentierwurst und Fladenbrot, dazu tranken sie Bier.
Erst aßen sie eine Weile schweigend, dann begannen die beiden Chefs, Lauritz vorsichtig über seine deutsche Ingenieursausbildung auszufragen. Sie selbst hatten um 1870 ihr Examen in Kopenhagen abgelegt und zweifelten nicht daran, dass seither Fortschritte gemacht worden waren, insbesondere in Deutschland.
Da Lauritz über keine andere Ausbildung Bescheid wusste als seine eigene und sich auch nicht vorstellen konnte, wie es in Kopenhagen um 1870 zugegangen war, war
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