Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
heute Nacht, ohne irgendwo zu übernachten, in Voss einzutreffen«, murmelte Berner. »Vielleicht sollten wir auch zurückgehen?«
Sie gingen denselben Weg an den beiden Seen vorbei zurück nach Hallingskeid und unterhielten sich über Baugerüste, Winterstürme und den dramatischen Wasserfall Kleivefossen. Eines Tages würden Touristen dorthin strömen, glaubte Berner.
Lauritz machte eine Kaffeepause beim Ingenieurshaus in Hallingskeid, lehnte es aber beharrlich ab, dort zu übernachten, weil er noch vor Einbruch der kurzen Mittsommernacht nach Finse kommen könne. Berner runzelte die Stirn, widersprach aber nicht.
Die ersten Stunden marschierte Lauritz in einer Art Glücksrausch, bis ihm aufging, dass es sich tatsächlich um so etwas wie einen Rausch handelte.
Es war das erste Mal, dass er diese Halluzinationen hatte, die entstehen, wenn man sich lange in großer Höhe aufhält. Erst hörte er Musik in seinem Kopf, sehr wirkliche Musik, als säße er mitten in einem Sinfonieorchester. Es wurde immer wieder dasselbe Stück gespielt, und es ließ sich nicht
abstellen. Es war ein sehr bekanntes Stück aus einer Orchestersuite von Bach, und es irritierte ihn ungemein, dass ihm nicht einfiel, wie das Stück hieß.
Ingeborg und er gingen in Dresden die Uferpromenade entlang. Sie trug einen grafitgrauen Hut mit Schleier und breiter Krempe und ein knöchellanges lila Samtkleid. Ausnahmsweise unterhielten sie sich nicht über Politik, sondern sie scherzte, dass sie Andromeda sei und er Perseus. Das sei mehr als nur eine Allegorie, behauptete sie mit Nachdruck.
Dieses Stück, das sich in seinem Kopf festgesetzt hatte und immer wieder von Neuem begann, war natürlich das »Air«, lächerlich, dass er nicht eher draufgekommen war.
Der Held Perseus eilt Andromeda im letzten Augenblick zur Hilfe, gerade als das Ungeheuer aus dem Meer steigt, um sie zu verschlingen. Kurz darauf hält er das abgeschlagene Medusenhaupt in der Hand, und das Ungeheuer versinkt wie ein Stein im Meer. Andromeda und Perseus leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Der Felsen, an den ihr Vater seine Tochter kettete, war die jährlich wiederkehrende Regatta in Kiel, eines der wichtigsten Ereignisse der vornehmen deutschen Gesellschaft. Heiratsmarkt nannte Ingeborg die Veranstaltung verächtlich. Dort wurde sie nämlich vorgeführt, wie schon ihre jüngeren Schwestern präsentiert worden waren, und zwar einem Mann in passender Stellung nach dem anderen. Die größte Hoffnung setzte ihr Vater auf einen bayerischen Prinzen. Das wäre ihm natürlich sehr recht gewesen, schrieb Ingeborg ironisch. Ein bayerischer Prinzentitel entschuldigte in Kiel jedes Meeresungeheuer, auch solche Unsitten, wie Adelsfräulein ganz zu verschlingen.
Das Schlimmste war laut Ingeborg nicht, wie beim Mädchenhandel vorgeführt zu werden, das Demütigendste sei, dass ihr Vater sie nicht ernst nehme.
Das Tal lag hinter ihm, er kam in größere Höhen, und plötzlich lief in seinem Kopf eine andere Grammofonscheibe. Das Stück war ebenso bekannt wie das vorige. Chopin. Der Titel fiel ihm wieder nicht ein, obwohl er jede Note auswendig kannte.
Immer wieder hatte sie ihrem Vater zu erklären versucht, dass er sie nie würde zwingen können, in einer Kirche vor Gott gegen ihren Willen das Jawort zu geben. Dass sie an keinen Gott glaubte, hatte sie ihm verschwiegen. Und zu einem anderen als Lauritz Lauritzen würde sie ohnehin nie Ja sagen, das hatte sie sich geschworen.
Wie er geschworen hatte, dass er Ingeborg heiraten würde und sonst keine.
»Nocturne Nr. 2« hieß das Stück, eines ihrer Lieblingsstücke innerhalb der von ihr so genannten bürgerlichen Musik. Ihr Vater nannte es Frauenzimmermusik.
Lauritz ging sehr langsam, er schleppte sich fast vorwärts. Der Höhenrausch hatte zur Folge, dass er nicht einmal mehr die Schmerzen in den Knien spürte. Er sehnte sich nach der Dunkelheit, der wenigen Dunkelheit, die zu dieser Jahreszeit geboten wurde. Der Himmel war vollkommen klar, die Temperatur sank, vielleicht würde er irgendwann nach Mitternacht sogar die Sterne sehen. Bei seinem Tempo würde er ohnehin erst nach Mitternacht in Finse eintreffen. Es war sensationell, dass man Erschöpfung als körperliches Glück empfinden konnte.
Die Direktion vertraute ihm. Sie hatte ihm das größte, gefährlichste und schwerste Projekt auf der gesamten
Bahnstrecke übertragen. Er würde seine Pflicht tun, seine Schuld zurückzahlen. Dann war er frei. Die Brücke würde sein
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