Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
dass sie zu spät kamen, dass dort keine lebende Menschenseele mehr anzutreffen war. Elise und Joseph lagen auf der Erde festgezurrt vor einem noch schwelenden Feuer. Vermutlich hat es vor drei Stunden lichterloh gebrannt, dachte Oscar, während er unvorsichtig das letzte Stück Weg rennend zurücklegte. Die anderen gingen langsam und mit gesenkten Köpfen hinter ihm her.
Dass sie tot waren, war nur zu offenbar. Sie waren auf die Erde genagelt, Arme und Beine wie bei einem Andreaskreuz gespreizt. Elise hatte man bei lebendigem Leib die Brüste abgeschnitten, registrierte Oscar und versuchte verzweifelt, sich gegen das aufsteigende Grauen zu wehren. Joseph hatte man Penis und Hoden abgeschnitten und ihm alles in den Mund gestopft. Die beiden waren vollkommen nackt, und die Geier hatten sich bereits über sie hergemacht.
Oscar war wie gelähmt, wie in einem Albtraum. Erneut versuchte er sich in den Griff zu bekommen, indem er seine Beobachtungen rein wissenschaftlich anzugehen begann.
Die Köpfe von Elise und Joseph waren mit in die Erde gehämmerten Pflöcken fixiert, ihre Münder mit Keilen aus Akazienholz aufgerissen worden. Ihre Nasenlöcher waren mit schwarzem Lehm verschlossen.
Die anderen Männer standen reglos in einem Halbkreis um ihn herum. Niemand sagte etwas.
»Warum?«, fragte Oscar an Kadimba gewandt und deutete auf seine eigenen Nasenlöcher.
»Damit sie ertrinken, Bwana Oscar«, flüsterte Kadimba. »Kinandi bringen ihre Feinde langsam um, vorzugsweise durch Ertrinken.«
Oscar brauchte eine Weile, bis er begriff, was das bedeutete.
Sie waren mit Urin ertränkt worden. Der Gestank war eindeutig. Deswegen hatte man ihnen den Mund aufgesperrt und die Nasenlöcher mit Lehm verschlossen.
Er sah die grinsenden, triumphierenden, tanzenden Krieger einen nach dem anderen vortreten und unter fröhlichen, aufmunternden Zurufen der anderen in die Münder ihrer Opfer urinieren. Er wollte schreien, laut heulen, und weinte dann doch nur leise, weil er sich in Gesellschaft seiner Untergebenen befand.
Aber das war noch nicht alles, das Schlimmste hatte er noch nicht gesehen.
Als er sich von dem unerträglichen Szenario abwandte, fiel sein Blick auf etwas, das sich ihm zuerst nicht erschloss. Auf der improvisierten Feuerstelle vor den toten Eltern lag der Kopf der kleinen Tochter, verkohlte Haare klebten an verkohlter, sich schälender Haut. Ihre Augenhöhlen gähnten leer und verbrannt. Auf einem Rost über dem Feuer lag der Rest der Leiche, aber Oscar musste sehr lange hinschauen, um zu begreifen, was er dort sah. Den Rumpf, verkohlte Rippen, einen kleinen Fuß. Arme und Beine fehlten.
Nein, sie fehlten nicht. Die Knochen lagen verstreut herum, abgekratzt, genauer gesagt abgenagt.
Bei dieser Einsicht hatte er das Gefühl, sein Kopf würde
platzen. Der Sinn dieses grauenhaften Rituals konnte nur gewesen sein, vor den Augen der Eltern die Tochter zu verspeisen und sie dann ebenfalls zu massakrieren.
Er rannte weg, würgte, aber seine Verzweiflung war größer als sein Ekel. Die Bilder ätzten sich in sein Gehirn ein, er konnte ihnen nicht entkommen. Als er sich in eine der Lehmhütten flüchtete, damit die anderen ihn in diesem Zustand nicht sahen, kam der nächste Schock. Dort hingen die geschlachteten Überreste dreier Frauen, der ersten drei, die Elise und Joseph zur reinen evangelischen Lehre bekehrt hatten. Ihre Brüste waren ebenfalls abgeschnitten worden, Arme und Beine fehlten, die Rümpfe waren blutüberströmt. Er stellte sich vor, was die Frauen hatten erleiden müssen, als sie noch am Leben waren, und versuchte verzweifelt, sich gegen die Bilder zu wehren. Er schlug die Hände vors Gesicht und schrie hemmungslos.
Möglicherweise wurde er sogar ohnmächtig. Das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war, dass Kadimba neben ihm saß, ihm einen Arm unter den Nacken gelegt hatte und ihm Wasser einzuflößen versuchte, das aber größtenteils auf sein verschwitztes Khakihemd floss.
»Wir befinden uns in einer gefährlichen Situation, Bwana Oscar. Wir müssen rasch denken und klug handeln«, flüsterte Kadimba.
Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen. Es ging um Leben und Tod.
»Du hast recht, mein Freund Kadimba«, sagte er, stand hastig auf, holte einige Male tief Luft und ballte seine Rechte immer wieder zur Faust, um zu sehen, ob er noch immer als Mensch funktionierte, zumindest rein mechanisch.
»Kadimba, sag mir die Wahrheit, auch wenn sie schrecklich
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