Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Die Brückenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Die Brückenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
Vom Netzwerk:
Nacht war fast vollkommen still. Nur das Heulen einiger Hyänen war in der Ferne zu hören. Kadimba lag ausgestreckt, die Hände unter dem Nacken gefaltet, am anderen Ende des Waggons, was unpassend entspannt wirkte.
    »Glaubst du, sie kommen, Kadimba?«, flüsterte Oscar.
    »Ja, Bwana Oscar, sie kommen ganz sicher. Vielleicht nicht heute Nacht, aber sie kommen«, antwortete Kadimba in normaler Lautstärke. Flüstern war unnötig. Schließlich waren sie nicht auf der Jagd. Falls hundert Mann sie angriffen, würde das keinesfalls lautlos geschehen.
    »Wie kannst du dir so sicher sein, dass sie kommen?«, fragte er.
    »Sie haben bald Hunger. Sie haben nur Waffen dabei, aber keinen Proviant. Und bei den Medizinmännern Gottes haben sie nur ein paar Frauen und das Kind gegessen«, antwortete Kadimba und unterdrückte ein Gähnen.
    Mit kurzer Verzögerung dämmerte Oscar, was Kadimba gesagt hatte. Die Kinandi mussten schon allein deswegen angreifen, um ihren Hunger zu stillen. Man hatte ihm gesagt, eine der Segnungen der Zivilisation sei es, dass der Kannibalismus wie die Sklaverei in Afrika ausgerottet wären. Jetzt hatte er mit eigenen Augen gesehen, dass es nicht stimmte.
    »Dein Volk, Kadimba, und euer Brudervolk, die Massai, essen keine Menschen. Warum also die Kinandi?«, fragte er, als er das Schweigen nicht länger ertragen konnte.
    »Die Kinandi kommen von weit her. Sie legen rasch große Strecken zurück und tragen nur ihre Kriegswaffen bei sich. Wenn sie so unterwegs sind, können sie nicht jagen. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass sie ihre Feinde essen. Oder ihre Anführer haben gesagt, dass die Stärke des weißen Mannes auf sie übergeht, wenn sie seine Kinder essen. Vielleicht ist es deswegen«, antwortete Kadimba und drehte sich auf seiner Matratze um, als sei das Thema erschöpft. Offenbar wollte er lieber schlafen als sich unterhalten.
    In der Stille begann es, in Oscars Kopf zu schwirren. Die Verwirrung und Angst, die er durch die Unterhaltung mit Kadimba hatte vertreiben wollen, kehrten zurück. Dazu kamen die Bilder der Gräueltaten, die er bei der Missionsstation gesehen hatte. So hatte Gott die belohnt, die ihm am meisten zugetan waren und unschuldig an ihn geglaubt hatten.
    Als er neun Jahre alt gewesen war, hatte er Gott gehasst, aber nicht gewagt, es jemandem zu erzählen, weil er wegen einer so gotteslästerlichen Äußerung vermutlich Prügel und Schelte bezogen hätte. Aber Gott hatte ihm, seinen Brüdern und Cousinen Vater und Onkel genommen. Sechs Kinder hatten ihre Väter und zwei Witwen den Ernährer verloren. Obwohl sie jeden Sonntag zur Kirche gerudert waren oder sich auf Skiern durch den Schneesturm gekämpft hatten, wenn das Rudern unmöglich gewesen war, um Gottes Wort zu hören, hatte Gott sie mit der grausamsten aller Ungerechtigkeiten bestraft.
    Seit dem Tage, an dem sein Vater auf dem Meer verschollen war, hatte Oscar nicht mehr zu Gott gebetet. War er an einem Sonntag in Daressalam, fand er sich ordentlich gekleidet zum Hauptgottesdienst in der evangelischen Kirche ein. Alles andere hätte unnötiges Gerede provoziert. Und wenn man von den Segnungen sprach, die die Missionare den Negern brachten, ein Wort, das er nicht mehr verwendete, nickte er nur. Natürlich gehörte die Verbreitung der reinen Lehre zu den guten Dingen, die die germanische Zivilisation Afrika schenkte. Manchen Leuten war dieses Projekt sogar wichtiger als die Eisenbahn.
    Er hörte draußen in der Dunkelheit Geräusche, nein, mehr als das, Lärm. Die Kinandi machten kein Geheimnis
aus ihrer Ankunft. Oscar schaute an den Nachthimmel. Es war Halbmond und sternklar, hell genug, um nachts unterwegs zu sein, wenn man vorsichtig war. Offenbar schlugen die Kinandi auf der anderen Seite der Dornenbuschbarriere ein Lager auf. Wenig später erscholl ein rhythmischer Gesang aus vielen Männerkehlen. Oscar verstand einzelne Wörter, konnte sich aber auf den Inhalt keinen Reim machen.
    »Verstehst du, was sie singen?«, fragte er Kadimba.
    Kadimba hatte sich ebenfalls aufgesetzt, um zu lauschen. Er schüttelte den Kopf, sprang dann mit einem Satz über die Mahagonistämme hinweg, landete geschmeidig wie ein Leopard auf dem Bahndamm und verschwand. Nach einer Weile kehrte er mit einem Arbeiter zurück, den er wie ein Katzenjunges im Genick gepackt hielt, und warf ihn, ohne sich um den Lärm zu kümmern, auf den Waggon.
    »Er ist Kinandi, fast jedenfalls, er gehört zu den Nandi aus dem Norden«, erklärte Kadimba und

Weitere Kostenlose Bücher