Die Brückenbauer: Roman (German Edition)
geradezu genüsslich mit der Vernehmung fort.
»Herr Vorsitzender. Ich beantrage eine Unterbrechung!«, wandte der Verteidiger Leutnant Vortisch ein, der zum ersten Mal das Wort ergriff. »Diese Frage entbehrt jeglicher rechtlicher Relevanz.«
»Wie meinen Sie das, Herr Leutnant?«, fragte der Vorsitzende interessiert.
»Die Beklagten sind nicht des Kannibalismus angeklagt, da dieser Straftatbestand im deutschen Gesetzbuch nicht existiert, Herr Vorsitzender«, antwortete der Leutnant mit einer Selbstsicherheit, die großen Eindruck auf Oscar machte. »Diese Frage dient einzig und allein dazu, die feindselige Einstellung den Angeklagten gegenüber zu verstärken, und ist daher unzulässig. Allein aus Rücksicht auf die Opfer und das Gericht sollte man davon absehen«, schloss der Verteidiger mit ebenso großer Sicherheit.
Enttäuschtes Gemurmel im Saal. Alle Blicke waren auf den Vorsitzenden gerichtet, der seltsamerweise fast amüsiert wirkte. Er dachte nach, kratzte sich am Bart und formulierte dann seine Antwort.
»Ihrem Einwand fehlt es nicht an juristischem Scharfsinn, Herr Anwalt«, begann er nachdenklich. »Die Straftat Kannibalismus existiert nicht im deutschen Recht, folglich liegt auch keine Anklage in diesem Punkte vor. Rein juristisch kann es daher den Anschein haben, als hätten Sie einen relevanten Einwand gefunden. Außerdem ist Ihr Hinweis auf das Taktgefühl sympathisch. Hingegen sind Fragen, die das Motiv der Mörder oder ihre besondere Rücksichtslosigkeit betreffen, in hohem Grade bei der Bemessung der Strafe von Bedeutung. Ich werde diese Frage daher zulassen. Bitte fahren Sie fort, Herr Staatsanwalt!«
Es hatte erst den Anschein, als wollte der Verteidiger weitere Einwände vorbringen, dann aber schaute er resigniert auf seine Papiere. Der Staatsanwalt wirkte umso zufriedener, als er sich wieder an Oscar wandte.
»Wir sind also bei Ihren Beobachtungen angekommen, die den Kannibalismus betreffen, Herr Diplomingenieur. Was können Sie darüber erzählen?«
Beifälliges Gemurmel im Saal. Die Spannung stieg. Oscar war gar nicht wohl in seiner Haut. Eine solche Wendung hatte er nicht erwartet. Nur die Wahrheit sagen war offenbar nicht so einfach. Erneut sammelte er sich, so gut es ging.
»Die Kleine … entschuldigen Sie, wie hieß das Mädchen noch gleich?«, begann er nervös.
»Roselinde Zeltmann.«
»Roselinde, ja. Sie lag auf einem Rost vor ihren Eltern. Der Leichnam war zerteilt, Kopf und Rumpf waren getrennt, die Augen entfernt. Die Tote war ausgeweidet. Arme und Beine waren separat geröstet worden, die Knochen lagen abgenagt herum.«
Der Richter schlug immer wieder mit seinem Hammer auf den Tisch, um dem Aufruhr, der im Saal auszubrechen drohte, zuvorzukommen.
»Haben Sie andere Anzeichen für Kannibalismus entdeckt, Herr Diplomingenieur?«, fragte der Staatsanwalt weiter, als wieder Stille eingetreten war.
»Ja. Ähnliche Beobachtungen machte ich bei den Dienstmädchen des Missionarspaares. Die Kinandi haben einzelne Körperteile von der Missionsstation in ihr Heerlager an der Eisenbahnlinie mitgenommen. Dort fand ich Reste einer ähnlichen Mahlzeit.«
»Dann denke ich, wir ersparen der Öffentlichkeit weitere Details zu diesem Thema«, stellte der Staatsanwalt fest, beugte sich einen Augenblick über sein Pult und wandte sich dann wieder an Oscar.
»Nur noch ein paar Kleinigkeiten«, fuhr er dann freundlich fort, als hätten sie jetzt alles Qualvolle und Schwierige hinter sich. »Sie haben also sechs Mann gefangen genommen, von Anfang an war die Banditenschar aber viel größer?«
»Ja. Es handelte sich um etwa hundert Mann.«
»Und warum haben Sie die sechs, die hier im Saal sitzen, gefangen genommen?«
»Weil sie überlebt hatten. Sie hatten nur geringfügige Verletzungen, die Dr. Ernst behandeln konnte.«
»Warum haben Sie sie nicht erschossen?«
»Entschuldigen Sie, was meinen Sie, Herr Staatsanwalt?«
»Sie haben gehört, was ich gefragt habe. Warum haben Sie sie nicht erschossen, statt sie zusammenzuflicken und sie hier vor Gericht zu bringen?«
»Weil sie keine kämpfenden Feinde mehr waren. Sie waren Gefangene. In unserer Kultur richtet man keine Gefangenen hin.«
»Eine ausgezeichnete Einstellung, Herr Diplomingenieur. Und was wurde aus den getöteten Feinden?«
»Wir haben sie der Natur überantwortet. Alles andere wäre unter Seuchengesichtspunkten unverantwortlich gewesen.«
»Ich verstehe. Ausgezeichnet. Dann habe ich nur noch eine letzte Frage, die
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