Die Brueder des Kreuzes
definieren kann, was Ehre ist. Am wahrscheinlichsten bekommen Sie dann andere Begriffe zu hören, die heutzutage ebenfalls selten geworden sind – Integrität, Redlichkeit, Moral und persönliche Unabhängigkeit unter Beachtung der Regeln, die die Ethik diktiert. Der eine oder andere wird vielleicht sogar so weit gehen, auch von einem Gewissen zu sprechen. Doch es gibt keine allgemeingültige Definition von Ehre. Ehre ist ein Anachronismus, ein belächelter Begriff aus einer vergangenen Zeit, und wer dieses Wort heutzutage in den Mund nimmt, wird schnell als Exzentriker abgetan. Im Lauf der Geschichte ist Ehre obendrein immer wieder ein Synonym für Tapferkeit im Kampf gewesen. Doch auch heute noch gibt es Menschen, die den Begriff der Ehre als ihre persönliche Standarte hochhalten und sich nicht daran stören, was andere denken, sagen oder tun mögen.
Jack Whyte
Kelowna, Britisch-Kolumbien, Kanada
Juli 2007
DIE HÖRNER VON HATTIN
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1
W
IR HÄTTEN LA SAFOURI nie verlassen dürfen. In Christi Namen, das konnte doch sogar ein Blinder sehen.«
»Ach ja? Warum hat dieser Blinde denn nichts gesagt, bevor wir aufgebrochen sind? De Ridefort hätte gewiss gern auf jeden Rat gehört, erst recht auf den eines Blinden.«
»Euren Sarkasmus könnt Ihr Euch sparen, de Belin, ich meine es ernst. Was tun wir hier?«
»Wir warten darauf, dass uns jemand sagt, was wir tun sollen. Warten auf den Tod. So will es das Soldatenlos, oder etwa nicht?«
Alexander Sinclair, Ritter des Tempels, hörte dem leisen, aber heftigen Streit zu, achtete aber sehr darauf, nicht dabei bemerkt zu werden, denn obwohl er den Klagen Sir Antoine de Lavisses nur beipflichten konnte, konnte er es sich nicht erlauben, sich dabei erwischen zu lassen. Das wäre der Disziplin alles andere als zuträglich gewesen. Er zog sich den Schal fester um das Gesicht und stellte sich in die Steigbügel, um den Blick über das dunkle Lager schweifen zu lassen. Überall hörte er unsichtbare Bewegungen, und wieder rief eine arabische Stimme »Allahu Akbar« – Gott ist groß, Teil der Litanei, die schon die ganze Nacht zu hören war.
Hinter ihm murmelte Lavisse weiter.
»Warum sollte ein Mann, der bei Verstand ist, eine gesicherte Position aufgeben, umgeben von Steinmauern und versorgt mit mehr Trinkwasser, als diese Armee je verbrauchen kann, um mitten im Sommer in die Wüste zu marschieren? Und zwar gegen einen Feind, der in dieser Wüste lebt , einen Feind wie ein Heuschreckenschwarm, dem die Hitze nichts anhaben kann? Bitte sagt mir das, de Belin. Ich brauche dringend eine Antwort auf diese Frage.«
»Dann fragt nicht mich.«
De Belins Stimme klang angewidert und frustriert.
»Geht in Gottes Namen und fragt de Ridefort. Er ist es, der diesen Idioten von einem König zu diesem Marsch überredet hat, und er wird Euch sicherlich gern erklären, warum. Und dann fesselt er Euch wahrscheinlich an Euren Sattel, verbindet Euch die Augen und schickt Euch den Sarazenen mit nacktem Hintern zur Belustigung hinüber.«
Sinclair zuckte zusammen. Es war nicht ganz fair, Gerard de Ridefort allein für ihre derzeitige Misere verantwortlich zu machen. Natürlich bot der Großmeister des Tempels eine willkommene Zielscheibe. Doch es war nun einmal so, dass irgendjemand Guido von Lusignan, den König von Jerusalem, zum Handeln treiben musste . Eigentlich war der Mann nur dem Namen nach König, denn man hatte ihn auf Beharren seiner Frau Sybilla gekrönt, der Schwester des letzten Königs, die jetzt die rechtmäßige Königin war und ihren Gemahl abgöttisch liebte. Er selbst war völlig ungeeignet, eine Machtstellung zu bekleiden, denn er war ein schwacher, unentschlossener Mensch.
Doch es ging den Streitenden in Sinclairs Rücken ja nicht um vernünftige Argumente. Sie nörgelten nur um des Nörgeins willen.
»Psst! Achtung, da kommt Moray.«
Sinclair blickte stirnrunzelnd in die Dunkelheit, und als er den Kopf wandte, konnte er seinen Freund Sir Lachlan Moray kommen sehen. Er saß zu Pferd, gefasst auf alles, was die Dämmerung bringen mochte, obwohl bis dahin noch eine Stunde Zeit sein musste.
Sinclair war nicht überrascht, denn nach allem, was er gesehen hatte, hatte niemand in dieser furchtbaren, nervenaufreibenden Nacht schlafen können. Überall erklangen Hustengeräusche, das heftige, schmerzhafte Bellen der Männer, denen die Luft ausging, weil sie am Rauch schier erstickten. Die Sarazenen, die im Schutz der Dunkelheit auf den Hügeln über ihnen Stellung
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