Die Brut des Bösen - Graham, P: Brut des Bösen - L'Apocalypse selon Marie
dein Name, bevor dich die entartete Familie in Boston aufgenommen hat?«
»Gardener. Ich hieß Maria Gardener.«
»Jetzt erinnerst du dich also?«
»Ja.«
»Ich bin stolz auf dich, Maria. Wir sind gut vorangekommen.«
Maria spürt, wie ihr dicke Tränen über die Wangen laufen.
»An jenem Abend haben Sie mich chloroformiert, in eine Decke gewickelt und im Kofferraum Ihres Oldsmobile eingesperrt. Ich erinnere mich, dass es da nach Plastik und Benzin roch, außerdem nach Urin. Um den Geruch zu überdecken, hatten Sie ein Deodorant auf die Kofferraummatte gesprüht.«
»Ja, Kinder können nicht an sich halten.«
Maria hört das Beben in Daddys Stimme. Jedes Wohlwollen ist von ihm abgefallen, jetzt ist er voller Hass und Verachtung, ein Raubtier. Er beruhigt sich, holt Luft. Ein wenig wird er wieder Dr. Cooper.
»Was noch, Maria?«
»Ich erinnere mich, dass ich mit einem scheußlichen Geschmack im Mund zu mir gekommen bin. Ich lag in die Decke eingewickelt im Dunkeln. Sie haben mir ein Kissen unter den Nacken gelegt. Ich habe die Augen aufgemacht, aber nichts gesehen. Um mich herum bewegte es sich. Gedämpft drang das Motorgeräusch zu mir. Ich nahm den Geruch nach Öl und Benzin wahr. Ich habe dann den Kopf nach rechts gedreht und durch die schlecht schließende Kofferraumdichtung einen dünnen Lichtstreif gesehen. Dann wurde es wieder dunkel, worauf erneut ein Lichtstrahl zu mir hereindrang.«
»Die Laternen an der Schnellstraße. Drei Tage lang sind wir über die Interstate 95 nordwärts gefahren. Ich habe
alle vier Stunden angehalten, um dir ein Mittel zu geben, damit du schliefst und keine Angst hattest. Als mich trotz der Amphetamine die Müdigkeit übermannte, habe ich den Wagen auf einem Feldweg abgestellt und ein paar Stunden geschlafen, bevor ich weiterfuhr. Ich habe dich keinen Augenblick allein gelassen. Das hätte ich nie getan. Keins der anderen Kinder hat während der ganzen Fahrt so wenig geweint wie du. Kaum, dass du ein paarmal mit den Knien gegen den Kofferraumdeckel gestoßen bist. Ich brauchte dich nicht zu bestrafen.«
»Ich erinnere mich, dass der Wagen ein letztes Mal angehalten hat. Es ging schon seit Stunden über eine Art Feldweg. Die Räder sprangen in den Wagenspuren auf und ab. Die Federung knirschte und knarrte, und alles um mich herum bebte. Ich hatte entsetzliche Angst.«
Dr. Cooper lächelt.
»Der Seboomook-Express.«
»Was?«
»Seboomook ist ein verlorenes Kaff im tiefsten Maine, im Kreis Somerset. Eine Handvoll verstreuter Hütten am Nordufer des Moosehead-Sees, von dem aus es rund fünfzig Kilometer bis zur kanadischen Grenze sind. Ich hatte da ein Fischerhaus geerbt. Eine idyllische Gegend, voller Fische, Eis und Stille. Der nächste Nachbar lebte vierzig Kilometer entfernt, und bis zum Bahnhof waren es zweihundert Kilometer. Die einzige Verbindung zur Außenwelt war ein ausgefahrener Weg, den acht Monate im Jahr Schnee und durch die Stürme umgestürzte Bäume versperrten. Ihn habe ich für mich ›Seboomook-Express‹ genannt. Ich hatte ihn Tausende von Malen im Jeep meines Großvaters befahren. Sechzig Kilometer ausgefahrene Wagenspuren und Schlaglöcher durch einen der tiefsten Wälder des Staates Maine. Er ist so dicht, dass an manchen Stellen noch nie ein Mensch war. So etwas sagt mir zu. Menschenleere
Orte, sozusagen tote Bereiche im großen Gehirn der Menschheit. Dort hatte ich die Krippe eingerichtet, in der ich meine Kinder sammelte, nachdem ich sie vor ihren Pflegeeltern gerettet hatte.«
»Sie waren damals Psychiater in den sozialen Einrichtungen des Staates Massachusetts. Damit hatten Sie Zugriff auf die Akten von misshandelten Kindern, die man in Pflegefamilien untergebracht hatte.«
»Der Staat hat nichts getan, wohl aber ich. Ich habe die armen Würmchen gerettet und ihnen ein großes Haus voller Puppen und Spielzeug geboten. Meine Familie.«
Marias Augen füllen sich mit Tränen. Sie sieht das Haus mit dem Bootsanleger am Seeufer wieder vor sich, das Sonnenlicht, das zehn Minuten am Tag durch das vergitterte Fenster ihrer Zelle im Keller fiel.
»Das Auto ist mit einem letzten Knarren des Fahrwerks stehen geblieben. Ich erinnere mich an die Stille, die eintrat, als der Motor abgestellt wurde. Die Stille des Winters. Ich höre, wie die Tür zugeschlagen wird. Ihre Schritte, die im Schnee knirschten. Ich erinnere mich an das Sonnenlicht, das mich blendete, als Sie den Deckel des Kofferraums öffneten. Sie haben mich in die Arme genommen und mir einen
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