Die Buchmagier: Roman (German Edition)
dauerte lange genug, dass mir klar wurde, wie unzulänglich meine Worte waren, und dann zuckte sie die Schultern. »Jeder hat Probleme.«
»Könntest du nicht …«
»Versuch nicht , mich zu reparieren! Ich bin, was ich bin.« Ihr unvermitteltes, schalkhaftes Lächeln lockerte die Stimmung auf. »Es ist ’ne Menge zu verarbeiten, ich weiß. Ich denke daran, ein Merkblatt zusammenzustellen. ›Was tun, wenn eine Dryade scharf auf dich ist?‹ Was hältst du davon?«
Wie hatte Shah mit sich gelebt? Doch wenn ich Nein sagte, konnte Lena Greenwood viel gefährlicher als jeder Vampir werden. »Und was soll man tun?«
Sie holte langsam und tief Luft. »Ich verlange nicht von dir, eine Entscheidung zu treffen oder dich zu irgendetwas zu verpflichten. Denk nur bitte darüber nach!«
Es würde mir schwerfallen, über irgendetwas anderes nachzudenken.
Kapitel 6
Ich lag nicht weniger mit mir im Widerstreit, als wir drei Stunden später die Mackinac-Brücke erreichten. Ich reihte mich an den Mauthäuschen ein und fragte Lena: »Hast du ein M&M?«
Sie legte verwirrt den Kopf schräg, fischte aber eins aus der Tüte in ihrer Tasche.
Ich benutzte die Süßigkeit, um Klecks vom Armaturenbrett herunter und außer Sicht zu locken, als wir an dem Häuschen anhielten. Mir waren zwar keine Gesetze bekannt, die den Transport großer Spinnen untersagten, aber ich versuchte, meinen Mitmenschen Herzanfälle möglichst zu ersparen. Verdeckt von meinem Mantel blieb Klecks auf meinem Schoß, während ich die Mautgebühr entrichtete und auf die Brücke fuhr.
»Du siehst blass aus«, stellte Lena fest.
»Mir geht es gut.« Ich wechselte den Gang, blieb auf der rechten Spur und behielt die Augen auf die Straße vor mir gerichtet.
»Willst du, dass ich mal fahre?«
»Das Einzige, was schlimmer ist, als über diese Brücke zu fahren, ist, auf dem Beifahrersitz zu sitzen, während jemand anderes fährt. Ist nicht böse gemeint. Handelt sich um so eine Kontrollsache.«
Die eingebauten Verzauberungen des Triumphs boten Schutz vor allem Möglichen, angefangen von Steinen über Kugeln bis hin zu Drachenfeuer (obwohl ich Letzteres noch nie getestet hatte). Nichts davon bewirkte, dass ich mich wohler fühlte, als die Straße anstieg und wir die Obere Halbinsel hinter uns ließen.
Fünf Meilen Stahlhängebrücke verbanden Michigans Obere mit der Unteren Halbinsel. In der Mitte erhob sich die Mackinac-Brücke, siebzig Meter über dem Wasser. Bei dieser Höhe würde man grob geschätzt dreieinhalb Sekunden fallen und mit ungefähr dreiunddreißig Metern pro Sekunde oder etwa 120 Stundenkilometern aufprallen.
So beunruhigend diese Rechnung war, sie half mir, meinen Verstand zu beschäftigen. Bald fand ich mich hinter einem langsam fahrenden Kombi wieder. Überholen stand außer Frage; die Mittelspuren bestanden aus Gitterrosten, was bedeutete, dass sie so starke Vibrationen erzeugten, dass man beim Drüberfahren das Gefühl hatte, in einer stocksauren Hummel gefangen zu sein. Nicht zu vergessen die Tatsache, dass der Wind, der durch das Gitter aufstieg, ein kleineres Fahrzeug umwerfen konnte.
Sicher, das war erst einmal vorgekommen, damals neunzehnhundertachtundneunzig. Aber ich hatte nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.
Meine Gefährten hatten keine solchen Ängste. Klecks kehrte aufs Armaturenbrett zurück und quetschte sich in die linke untere Ecke der Windschutzscheibe, um während der Fahrt die dicken Stahlkabel besser beobachten zu können. Ich fragte mich, ob er sie als eine Art riesiges Metallnetz wahrnahm. Lena lächelte, als sie aufs Wasser hinausschaute.
»Ist es wahr, dass eine Kolonie von Seetrollen am Fuß der Brücke lebt?«, fragte sie.
»Seit einundsiebzig nicht mehr.« Ich blickte auf das blaue Wasser unter uns, wo der Huronsee auf den Michigansee traf. Weiße Schaumkronen hoben die Wellen hervor.
»Erzähl mir von Gutenberg.« Ihre geflissentliche Gelassenheit erinnerte mich an Doktor Shah, und ich fragte mich, ob es ein bewusster Versuch war, mich abzulenken. »Wenn er aus dem Heiligen Gral getrunken hat, wieso kannst du dann nicht dasselbe machen und auch unsterblich werden?«
»Er hat das Buch verschlossen. Tatsächlich sind die meisten heiligen Bücher verschlossen.« In Anbetracht dessen, wie gewalttätig Menschen in Religionsangelegenheiten werden konnten, war dies eines der wenigen Dinge, mit denen fast jeder Pförtner einverstanden war. »Im Prinzip versiegelt er den Text und hindert dadurch jeden daran,
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