Die Bücher und das Paradies
aber auch ein Leser von
außergewöhnlichem Feingefühl, und sehen wir uns an, wie
seine Lektüre des Paradiso ein Musterbeispiel an innerer Zerrissenheit ist – hier sage ich es, hier leugne ich es –, in stetem Wechsel zwischen Begeisterung und Befremden.
1 Artikel für die Tageszeitung La Repubblica vom 6. September 2000 als Beitrag zur Siebenhundertjahrfeier der Divina Commedia .
[Weil Dante seine Jenseitsreise, wie er zu Beginn sagt, in der
»Mitte seines Lebens« gemacht hat, das heißt nach traditionellem Verständnis in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr, also 1300, wurde das Jahr 2000 in Italien als das settecentenario der Divina Commedia gefeiert. A. d. Ü.]
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Als aufmerksamer Leser bemerkt De Sanctis sofort, daß
Dante im Paradiso von Unsagbarem sprechen muß,
nämlich von einem Reich des Geistes, und daß er somit
vor der Frage steht, wie dieses Reich »zur Darstellung
gebracht werden kann«. Infolgedessen habe Dante – so De
Sanctis –, um das Paradiso künstlerisch zu gestalten, ein menschliches Paradies ersonnen, das dem Verstand und
der Vorstellung zugänglich sei. Deshalb versuche er, in
der Metapher des Lichts den Anknüpfungspunkt für
unsere menschlichen Verstehensmöglichkeiten zu finden.
Und hier nun wird De Sanctis zum passionierten Leser
dieser Dichtung, in der es keine qualitativen Unterschiede,
sondern nur solche der Intensität des Lichtes gebe, und
zitiert Scharen von Glanzlichtern, schimmernde Wolken,
»klar wie sonnenbestrahlte Diamanten«, selige Geister, die
erscheinen »wie ein Bienenschwarm, der Blüten um-
schwirrt«, Flüsse, aus denen Funken sprühen, Lichter in
Form von gleißenden Strömen zwischen zwei Ufern,
Selige, die im Dämmer verschwinden »wie etwas
Schweres im tiefen Wasser«. Und er notiert, daß, als der
Apostel Petrus sich über Papst Bonifaz VIII. erbost (wobei
er Rom in Begriffen darstellt, die eher an die Hölle
erinnern: »aus meiner Grabesstätte machte er einen Pfuhl /
des Blutes und Gestanks«), der ganze Himmel seine
Empörung ausdrückt, indem er sich rot verfärbt.
Aber genügt eine Verfärbung, um menschliche Leiden-
schaften auszudrücken? Hier zeigt sich De Sanctis als
Gefangener seiner eigenen Poetik: »In diesem Strudel von
Bewegungen verschwindet die Persönlichkeit … es gibt
keinen Unterschied der Gestalten mehr, sondern gleichsam
nur noch ein einziges Gesicht … Dieses Verschwinden der
Formen und der Persönlichkeit selbst reduziert das
Paradiso auf eine einzige Saite, wenn nicht die Erde in es eindringen würde und mit der Erde andere Formen und
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Leidenschaften … Die Gesänge der Seligen sind inhalts-
leer, bloße Stimmen und keine Worte, bloße Musik und
keine Dichtung … Alles ist nur ein einziges Wallen von
Licht … die Individualität verschwindet im Meer des
Seins.« Ein unverzeihlicher Mangel, wenn Dichtung der
Ausdruck menschlicher Leidenschaften ist und mensch-
liche Leidenschaft nicht anders als fleischlich sein kann –
siehe Paolo und Francesca, die sich am ganzen Leibe
zitternd auf den Mund küssen, oder den Horror des
»grausigen Mahls«, oder den Verdammten, der Gott das
obszöne Fingerzeichen der Feige macht.
Der ganze Widerspruch, in dem sich De Sanctis
verfängt, kommt aus zwei Mißverständnissen: erstens, daß
der Versuch, das Göttliche allein durch Intensität von
Licht und Farbe darzustellen, eine zwar originelle, aber
fast unmögliche Anstrengung Dantes sei, um zu
vermenschlichen, was für Menschen nicht faßbar ist; und
zweitens, daß es Dichtung nur in der Darstellung von
Leidenschaften des Fleisches und Herzens geben könne
und daß eine Dichtung des reinen Verstandes oder gar
Intellekts nicht möglich sei, da sie in bloßer Musik enden
würde. (Hier ließe sich trefflich nicht über den guten De
Sanctis, wohl aber den Desanctismus seiner Nach-
schwätzer spotten, die so gern versichern, daß Bach keine
Poesie sei, Chopin dagegen zum Glück schon eher, daß es
im Wohltemperierten Klavier und in den Goldberg-
Variationen nicht um irdische Liebe gehe, während das
Regentropfenprélude an George Sand und an die drohende
Schwindsucht denken lasse, und das, potztausend, ist
wahre Poesie, denn es macht uns weinen.)
Kommen wir zum ersten Mißverständnis. Kino und
Computerspiele legen uns nahe, an das Mittelalter als eine
Abfolge von »dunklen« Jahrhunderten zu denken, dunkel
nicht im ideologischen Sinne (der dem Kino egal
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