Die Bücher und das Paradies
Paradies
verschlossen war und nur Buenos Aires blieb.
So kann vielleicht gerade im Licht der jahrhunderte-
langen Entwicklungen einer Verstandesdichtung das
Paradiso heute besser gelesen und geschätzt werden als noch zu Zeiten eines De Sanctis. Aber ich möchte hier
noch etwas hinzufügen, um die Phantasie der Jüngeren
unter uns anzuregen – oder auch derer, die sich weder für
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Gott noch für den Intellekt besonders interessieren. Dantes
Paradiso ist die Apotheose des Virtuellen, des Immateriellen, der reinen Software, frei vom Gewicht der
irdischen und der höllischen Hardware, deren Abfälle im
Purgatono bleiben. Das Paradiso ist mehr als modern, es kann für den Leser, der die Geschichte vergessen haben
mag, aufregend zukunftsträchtig werden. Es ist der
Triumph einer puren Energie, das, was das Netz der Netze
uns immer verspricht und niemals geben kann, es ist eine
himmelhohe Verklärung von Strömen, von Körpern ohne
Organe, ein Gedicht aus Supernovae und Zwergsternen,
ein ununterbrochener Urknall, eine Erzählung, deren
Geschehnisse sich über die Länge von Lichtjahren
hinziehen, oder um euch ein vertrautes Beispiel zu geben:
eine triumphale Odyssee im Weltraum, mit aller-
glücklichstem Happy-End. Also Leute, wenn ihr wollt,
könnt ihr das Paradiso auch so lesen, es wird euch nichts Böses tun und besser sein als eine Diskothek mit
stroboskopischen Blitzen und Ecstasy. Denn was Ekstasen
angeht, der dritte Teil der Divina Commedia hält seine Versprechen.
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Über den Stil
des Kommunistischen Manifests1
Man kann nicht behaupten, daß einige schöne Seiten allein
genügen, um die Welt zu verändern. Dem Gesamtwerk
Dantes ist es nicht gelungen, den italienischen Kommunen
einen Heiligen Römischen Kaiser wiederzugeben. Doch
wenn ich an jenen Text zurückdenke, der das Manifest der
Kommunistischen Partei von 1848 war und der zweifels-
ohne enormen Einfluß auf die Geschicke zweier Jahrhun-
derte gehabt hat, glaube ich, man sollte ihn unter dem
Gesichtspunkt seiner literarischen Qualität wiederlesen
oder zumindest – wenn man ihn nicht im Original lesen
kann – unter dem seiner außerordentlichen rhetorisch-
argumentativen Struktur.
1971 war eine Studie des venezolanischen Autors
Ludovico Silva über den literarischen Stil von Karl Marx
erschienen, die dann zwei Jahre später in italienischer
Übersetzung bei Bompiani unter dem Titel Lo Stile
letterario di Marx herauskam. Vermutlich ist sie
inzwischen vergriffen, und es würde sich lohnen, sie
nachzudrucken. Mit Berücksichtigung auch der litera-
rischen Interessen von Marx (wenige wissen, daß er als
junger Mann auch Gedichte geschrieben hatte, die
allerdings nach Aussage derer, die sie kennen, schrecklich
sein sollen) unterzog Silva das ganze Marxsche Werk
einer gründlichen Analyse. Seltsamerweise widmete er
1 Artikel im Nachrichtenmagazin L’Espresso vom 8. Januar 1998
zur Hundertfünfzigjahrfeier der Publikation des Manifests der Kommunistischen Partei.
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dabei dem Manifest nur wenige Zeilen, vielleicht weil es kein im strengen Sinne persönliches Werk ist. Das war
jedoch ein Fehler, denn es handelt sich um einen
großartigen Text, der es versteht, apokalyptische Töne mit
Ironie zu durchmischen, einprägsame Parolen mit klaren
Darstellungen alternieren zu lassen, und der (wenn die
kapitalistische Gesellschaft wirklich vorhat, sich für den
Ärger zu rächen, den diese wenigen Seiten ihr bereitet
haben) mit religiöser Inbrunst noch heute in den
Seminaren für PR- und Werbefachleute analysiert werden
müßte.
Er beginnt mit einem gewaltigen Paukenschlag, wie die
Fünfte von Beethoven: »Ein Gespenst geht um in
Europa – das Gespenst des Kommunismus« (vergessen
wir nicht, daß wir uns noch nahe der Blütezeit des früh-
und hochromantischen Schauerromans befinden und
Gespenster noch ernst genommen werden). Es folgt eine
in kühnen Strichen skizzierte Geschichte der sozialen
Kämpfe vom antiken Rom bis zur Entstehung und
Entwicklung der Bourgeoisie, und die Seiten über die
Eroberungen dieser neuen »revolutionären« Klasse sind
gleichsam deren Gründungspoem, das noch heute gültig
für die Verfechter des Wirtschaftsliberalismus ist. Man
sieht (und ich meine wirklich, man »sieht«, in beinahe
filmischer Anschaulichkeit), wie diese unaufhaltsame neue
Kraft, getrieben vom Bedürfnis nach immer größerem
Absatz für ihre Produkte »über die ganze Erdkugel
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