Die Bücher und das Paradies
ist die Entdeckung, daß die
Dinge nun einmal – und für immer – so und nicht anders
gelaufen sind, ungeachtet der Wünsche des Lesers. Der
Leser muß diese Frustration hinnehmen und durch sie den
Schauder des Schicksals verspüren. Könnte man selber
über das Schicksal der Personen entscheiden, wäre das,
wie wenn man in einem Reisebüro gefragt würde: »Wo
wollen Sie nun den Weißen Wal finden, bei den Samoa-
Inseln oder den Aleuten? Und wann? Und wollen Sie ihn
selber erlegen, oder soll Quiqueg das tun?« Die wahre
Lehre von Moby-Dick ist, daß der Wal bläst, wo er will.
Denken wir an die Beschreibung der Schlacht von
Waterloo, die Victor Hugo in Les Misérables gibt. Im
Unterschied zu Stendhal, der dieselbe Schlacht in der
Chartreuse de Parme aus der Sicht seines Helden
beschreibt, der mitten im Getümmel steckt und nicht
kapiert, was vorgeht, beschreibt sie Hugo aus der Sicht
Gottes, von hoch oben. Er weiß: Wenn Napoleon gewußt
hätte, daß hinter dem Höhenzug des Plateaus von Mont-
Samt-Jean ein jäher Abhang war (was ihm sein Führer
nicht gesagt hatte), dann wären die Kürassiere Milhauds
nicht zu Füßen des englischen Heeres aufgerieben worden,
und wenn der Hirtenjunge, der Bülow als Führer diente,
einen anderen Weg vorgeschlagen hätte, wäre das
preußische Heer nicht rechtzeitig gekommen, um die
Schlacht zu entscheiden.
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Mit einer hypertextuellen Struktur könnten wir die
Schlacht von Waterloo neu schreiben, etwa indem wir
anstelle von Blüchers Preußen die Franzosen von Grouchy
eintreffen ließen, und es gibt war games , die dergleichen erlauben und großen Spaß machen. Doch die tragische
Größe jener Seiten von Hugo liegt gerade darin, daß die
Dinge eben – ungeachtet unserer Wünsche – so laufen,
wie sie laufen. Die Schönheit von Krieg und Frieden liegt darin, daß der Todeskampf des Fürsten Andrej mit dem
Tod endet, sosehr uns das auch betrüben mag. Die
Erschütterung, die jede erneute Lektüre der großen
Tragiker in uns auslöst, kommt daher, daß ihre Helden, die
einem schlimmen Los hätten entfliehen können, aus
Schwäche oder Blindheit nicht begreifen, worauf sie
zugehen, und genau in den Abgrund stürzen, den sie sich
selbst bereitet haben. Im übrigen sagt Victor Hugo ja
selbst, nachdem er uns gezeigt hat, welche anderen
Gelegenheiten Napoleon in Waterloo hätte ergreifen
können:
»Wäre es Napoleon möglich gewesen, jene Schlacht zu
gewinnen? Wir antworten nein. Warum? Wegen Welling-
ton? Wegen Blücher? Nein. Wegen Gott.«
Das ist es, was alle großen Geschichten uns sagen, wobei
sie nur manchmal Gott durch das Schicksal oder die
unerbittlichen Gesetze des Lebens ersetzen. Die Funktion
der »unabänderlichen« Erzählungen ist genau diese:
Entgegen allen unseren Wünschen, das Schicksal zu
ändern, lassen sie uns mit Händen greifen, daß es nun
einmal nicht zu ändern ist. Und indem sie uns das vor
Augen führen, erzählen sie, gleich welche Geschichte sie
gerade erzählen, immer auch unsere eigene Geschichte,
und deswegen lesen und lieben wir sie. Ihre strenge und
»repressive« Lektion ist etwas, das wir benötigen. Das
hypertextuelle Erzählen kann uns zu Freiheit und
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Kreativität erziehen. Sehr schön, aber das ist nicht alles.
Die »schon fertigen« Geschichten lehren uns auch zu
sterben.
Ich glaube, diese Erziehung zu Fatum und Tod ist eine
der Hauptfunktionen der Literatur. Vielleicht gibt es noch
andere, aber die fallen mir jetzt nicht ein.
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Lektüre des Paradiso1
»Deswegen wird das Paradiso wenig gelesen und wenig
geschätzt. Ermüdend ist vor allem seine Monotonie, die
fast wie eine Reihe von Fragen und Antworten zwischen
Lehrer und Schüler anmutet.« So der große
Literaturhistoriker Francesco De Sanctis vor 130 Jahren in
seiner Storia della letteratura italiana , womit er einen Vorbehalt ausdrückte, den wohl jeder von uns in der
Schule gemacht hat, es sei denn, wir hatten ganz
außergewöhnliche Lehrer. Im übrigen findet man auch in
einigen jüngeren Literaturgeschichten den Hinweis, daß
die von der Romantik geprägte Kritik den dritten Teil der
Divina Commedia nicht besonders schätzte – ein Urteil, das sich auch auf das folgende Jahrhundert ausgewirkt hat.
Da ich im folgenden darlegen möchte, daß – natürlich –
das Paradiso der schönste Teil der Divina Commedia ist, kommen wir noch einmal auf De Sanctis zurück, der zwar
ein Mensch seiner Zeit war,
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