Die Bücher und das Paradies
ist),
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sondern ganz handfest in dunklen Farben und düsteren
Schatten. Nichts ist falscher. Die Menschen des Mittel-
alters lebten zwar in dunklen Umgebungen, in Wäldern,
Burgen und engen Räumen, die kaum vom Kaminfeuer
erhellt wurden, aber abgesehen davon, daß sie früh
schlafen gingen und mehr dem Tag zugetan waren als der
Nacht (die den Romantikern so teuer sein sollte), stellte
das Mittelalter sich selbst in grellen Farben dar.
Das Mittelalter identifizierte die Schönheit (außer mit
der Proportion) mit dem Licht und den Farben, und diese
Farben waren stets reine Grundfarben, eine Symphonie
von Rot, Blau, Gold, Silber, Weiß und Grün, ohne
Nuancen und ohne Helldunkel, in welcher der Glanz durch
den Einklang des Ganzen entsteht, nicht durch ein Licht,
das die Dinge von außen umhüllt oder die Farben über die
Ränder der Figuren hinaustreten läßt. In den mittel-
alterlichen Miniaturen scheint das Licht aus dem Innern
der Dinge zu strahlen.
Für Isidor von Sevilla ist Marmor schön wegen seiner
weißen Farbe, Metall wegen des Lichts, das es reflektiert,
und selbst die Luft ist schön und hat ihren Namen
aer/aeris vom Erz, weil dessen Name aes/aeris sich vom Glanz des aurum , also des Goldes herleite (tatsächlich schimmert sie wie Gold, sobald Licht auf sie trifft).
Edelsteine sind schön wegen ihrer Farbe, denn Farbe ist
nichts anderes als eingefangenes Sonnenlicht und puri-
fizierte Materie. Augen sind schön, wenn sie strahlen, und
am schönsten sind blaugrüne Augen. Zu den ersten
Eigenschaften eines schönen Körpers gehört die rosige
Haut. Bei den Dichtern ist dieser Sinn für die leuchtenden
Farben stets präsent, Gras ist grün, Blut rot, Milch
schneeweiß, eine schöne Frau hat für Guinizelli ein
»Antlitz von Schnee, karmesinrot gefärbt« (um nicht von
Petrarcas späteren »klaren, frischen und süßen Wassern«
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zu sprechen), die mystischen Visionen der Hildegard von
Bingen führen uns gleißende Flammen vor Augen, und
selbst die Schönheit des ersten gefallenen Engels verdankt
sich edlen Steinen, die wie der gestirnte Himmel funkeln,
so daß die unzählige Menge der Funken, die in der Pracht
seiner Ornamente erglänzen, die Welt mit Licht erfüllt.
Die gotische Kathedrale wird von messerscharfen
Lichtstrahlen durchschnitten, die durch die bunten Fenster
eindringen, um das Göttliche in die sonst dunklen
Kirchenschiffe zu lassen, und genau um diesen Licht-
bahnen Raum zu geben, wird der Platz für die Fenster und
die Rosetten vergrößert, die Mauern verschwinden bei-
nahe in einem Spiel von Strebepfeilern und Stützbögen,
und der ganze Bau ist darauf angelegt, den Einfall des
Lichts durch ein Gitterwerk durchbrochener Strukturen zu
ermöglichen.
Johan Huizinga erinnert in seiner Analyse der spät-
mittelalterlichen Ästhetik an die Begeisterung des
Chronisten Froissart für die Schönheit vollaufgetakelter
Schiffe mit ihren flatternden Fahnen und langen Wimpeln
und farbenprächtigen, in der Sonne schimmernden
Wappen, für das Glitzern der Sonnenstrahlen auf Helmen,
Harnischen, Lanzenspitzen, Federbüschen und Bannern
eines heranziehenden Reitertrupps; oder, bei den Farben
der Wappen, an die Vorliebe für Kombinationen von
Blaßgelb und Blau, Orange und Weiß, Orange und Rosa,
Rosa und Weiß oder Schwarz und Weiß; oder auch an die
Beschreibung einer jungen Dame, die in violetter Seide
auf einem Zelter mit blauseidener Schabracke erscheint,
geleitet von drei Männern in karmesinroter Seide mit
Kappen aus grüner Seide.
Ursprung dieser Leidenschaft für das Licht waren
theologische Denkfiguren alt- und neuplatonischer Her-
kunft (das höchste Gut als Sonne der Ideen, die einfache
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Schönheit einer Farbe, ausgehend von einer Form, die das
Dunkel der Materie beherrscht, die Schau Gottes als Licht,
als Feuer, als Leuchtende Quelle). Die Theologen machten
das Licht zu einem metaphysischen Prinzip, und da sich in
denselben Jahrhunderten unter dem Einfluß der Araber die
Optik entwickelte, kam es zu Reflexionen über die Wun-
der des Regenbogens und der Spiegel (die auch ein
paarmal geheimnisvoll flimmernd im Paradiso auf-
tauchen).
Dante hat also seine Poetik des Lichts nicht erfunden, als
er mit einem für die Dichtung sperrigen Material
experimentierte. Er hat sie rings um sich her vorgefunden
und neuformuliert für ein Publikum, das für Licht und
Farbe eine Leidenschaft hatte. Einer der
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