Die Bücher und das Paradies
des vorigen Tages ziehen, und sicher hatte sie recht. Im Laufe ihrer mündlichen Darlegung hat sie dann auch Bezugnahmen auf einen anderen
Roman von Verne gefunden (den ich offen gesagt gar
nicht kannte), in dem zahlreiche tickende Uhren be-
schrieben werden, ganz wie in meinem Roman. Nicht daß
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ich die Intentionen des empirischen Autors als Maßstab
für die Gültigkeit von Interpretationen des Textes nehmen
wollte, aber ich konnte nicht umhin zu erwidern, der Leser
solle lieber die vielen Zitate aus der Barockliteratur
wahrnehmen, die sich überall im Text finden. Nun ist der
Topos der tickenden Uhren typisch für das Barock, man
denke nur an die Gedichte von Lubrano. Allerdings kann
man von einer ausländischen Literaturwissenschaftlerin,
die nicht auf das italienische Barock spezialisiert ist,
schwerlich die Kenntnis eines poeta minore unseres
Settecento verlangen, und ich räumte ein, daß die Spur, die
sie verfolgte, selbstverständlich keine verbotene war.
Wenn man sich auf die Suche nach verborgenen Anspie-
lungen macht, ist es schwer zu sagen, ob der Autor recht
hat, der nichts von ihnen wußte, oder der Leser, der sie
gefunden hat. Aber ich gab zu bedenken, daß die
Entdeckung einer Bezugnahme auf die Barockdichtung
gut zu den allgemeinen Charakteristika dieses Textes paßt,
während die Entdeckung einer Bezugnahme auf Jules
Verne hier zu nichts weiter führt.
Offensichtlich hat die Diskussion die Rednerin
überzeugt, denn ich finde keine Spur mehr von diesen
Bemerkungen in den Akten jenes Kongresses (die bald
erscheinen werden).
Es gibt jedoch andere Fälle, in denen es sehr viel
schwieriger ist, die Belesenheit des Lesers zu überprüfen.
Im Foucaultschen Pendel habe ich meinen Erzähler
Casaubon getauft, und dabei dachte ich an Isaac
Casaubon, den Genfer Philologen, der mit untadeligen
kritischen Argumenten das Corpus Hermeticum entmythi-
fiziert hat. Mein Modell-Leser zweiten Grades, der Zu-
gang zur intertextuellen Ironie hat, könnte eine gewisse
Analogie entdecken zwischen dem, was der große Philo-
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loge begriffen hatte, und dem, was mein Erzähler am Ende
begreift. Ich war mir bewußt, daß nur sehr wenige Leser in
der Lage sein würden, die Anspielung zu verstehen, und
hielt das, textstrategisch gesehen, nicht für schlimm – soll
heißen: ich ging davon aus, daß mein Roman auch ohne
Kenntnis des historischen Casaubon gelesen und ver-
standen werden kann.
Bevor ich den Roman beendet hatte, entdeckte ich dann
ganz zufällig, daß Casaubon auch eine Figur in George
Eliots Middlemarch ist – ein Roman, den ich vor langer Zeit gelesen hatte, ohne daß jener Name irgendeine Spur
in meinem Gedächtnis hinterlassen hätte. In manchen
Fällen will der Modell-Autor Interpretationen, die ihm
sinnlos erscheinen, von vornherein unterbinden, und so
habe ich mich bemüht, die Möglichkeit einer Bezugnahme
auf George Eliot auszuräume n. Daher liest m an nun auf S. 77 folgenden Dialog zwischen Belbo und Casaubon:
»Übrigens, wie heißen Sie eigentlich?«
»Casaubon.«
»War das nicht eine Romanfigur in Middlemarch? «
»Keine Ahnung. Jedenfalls war’s, glaube ich, auch ein Philologe der Renaissance. Aber ich bin nicht mit ihm verwandt.«
Aber dann kam ein maliziöser Leser, David Robey, der
bemerkt hatte, daß dieser Casaubon bei George Eliot
offenbar nicht zufällig ein Buch namens Key to all
mythologies schreibt, und ich muß zugeben, das scheint natürlich bestens zu meiner Figur zu passen. Später hat
sich dann Linda Hutcheon genauer mit diesem Zusam-
menhang befaßt7 und noch andere Affinitäten zwischen
den beiden Casaubons gefunden, was die ironisch-
intertextuelle Temperatur meines Romans noch erhöht.
7 »Eco’s Echoes: Ironizing the (Post)Modern«, op. cit., S. 171.
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Als empirischer Autor kann ich versichern, daß mir kein
Hauch von all diesen Analogien bewußt war, aber wenn
die Belesenheit der Leserin Hutcheon so groß ist, daß sie
ihr diesen intertextuellen Bezug erlaubt, und wenn mein
Text ihn ermutigt, dann muß ich zugeben, daß die
Operation objektiv – im Sinne von kulturell und sozial –
möglich ist.
Ähnlich steht es mit dem Namen Foucault. Mein Roman
heißt Das Foucaultsche Pendel , weil das Pendel, um das es geht, von Léon Foucault erfunden worden ist. Wäre es
von Benjamin Franklin erfunden worden, hieße der
Roman Das Franklinsche Pendel . In diesem Fall war mir
von Anfang an bewußt, daß
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