Die Bücher und das Paradies
zwischen all jenen Neologismen und Latinisierungen nicht zu
erkennen vermag, wie die Geschichte ausgeht.
Genau besehen ist es das Spiel zwischen diesen beiden
Lektüre-Ebenen, in dem sich die zwei Arten des
Verständnisses von Katharsis in der aristotelischen Poetik und in der Ästhetik im allgemeinen bewegen. Bekanntlich
läßt sich Katharsis ja sowohl in »homöopatischer« als
auch in »allopathischer« Weise interpretieren: Im ersten
Fall ergibt sie sich aus der Tatsache, daß der Tragödien-
zuschauer wirklich von Furcht und Mitleid erfaßt wird,
und zwar so tief, daß er sich durch das Erleiden dieser
5 »Poliphilos Traumliebesstreit«, Roman von Francesco Colonna (1433
–
1527), erschienen 1499 bei Manutius in Venedig
(A. d. Ü.).
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Passionen reinigt und dann befreit aus der tragischen
Erfahrung herauskommt; im zweiten Fall versetzt uns der
tragische Text durch eine Verfremdung fast brechtischer
Art in eine Distanz zu der dargestellten Passion, und wir
befreien uns nicht, indem wir die Passion mitleiden,
sondern indem wir die Art und Weise bewundern, in der
sie dargestellt wird. Nun wird jeder leicht erkennen, daß
für eine Katharsis der homöopathischen Art ein Zuschauer
ersten Grades genügt (derselbe, der vor Freude weint,
wenn im klassischen Western endlich die rettende
Kavallerie erscheint), während eine allopathische Kathar-
sis einen Leser zweiten Grades erfordert – was zur Folge
hat, daß, vielleicht zu Unrecht, der Theorie von der allo-
pathischen Katharsis eine größere philosophische Würde
zuerkannt wird, eine reinere und reinigendere Sicht der
Kunst, während die homöopathische Theorie eher mit der
korybantischen Orgie und der eleusinischen Initiation
durch betäubende Düfte und Drogen (oder heutzutage mit
der Zelebrierung des Saturday Night Fever )assoziiert wird.
Hüten wir uns davor, die Unterscheidung der beiden
Ebenen so zu verstehen, als gäbe es auf der einen den
leicht zufriedenzustellenden Leser, der sich nur für die
Story interessiert, und auf der anderen den Leser mit
ästhetisch verfeinertem Gaumen, für den allein die
Sprache zählt. Wenn das so wäre, müßten wir einen
Roman wie den Grafen von Montecristo auf der ersten
Ebene mit roten Ohren lesen, womöglich auf Schritt und
Tritt heiße Tränen vergießend, dann auf der zweiten Ebene
pflichtbewußt feststellen, daß er, stilistisch gesehen, sehr
schlecht geschrieben ist, und daraus schließen, daß es sich
um einen ganz miserablen Roman handelt. Dabei ist es
gerade das Wunder von Werken wie Der Graf von
Montecristo , daß sie, obwohl tatsächlich sehr schlecht 270
geschrieben, Meisterwerke der erzählenden Literatur sind.
Folglich ist der Leser zweiten Grades nicht nur derjenige,
der bemerkt, daß der Roman schlecht geschrieben ist,
sondern auch derjenige, der sich bewußt macht, daß trotz
dieses Mangels die narrative Struktur perfekt ist, die
Archetypen alle am richtigen Platz stehen, die
dramatischen Überraschungen millimetergenau dosiert
sind, der Atem (wenn auch bisweilen keuchend) fast
homerisch ist – so daß abfällig über den Grafen von
Montecristo zu reden, weil seine Sprache nicht gut ist, so wäre wie abfällig über die Opern Verdis zu reden, weil
Francesco Maria Piave oder Salvatore Cammarano nicht
Leopardi waren. Der Leser zweiten Grades ist folglich
auch derjenige, der sich bewußt macht, wie gut es dem
Werk gelingt, auf der ersten Ebene zu funktionieren.
Allerdings ist es sicher diese zweite Ebene der kritischen
Lektüre, auf der sich entscheidet, ob ein Text zwei oder
mehr Sinnschichten hat, ob es sich lohnt, nach einem
allegorischen Sinn zu fahnden, ob die Fabel auch vom
Leser erzählt – und ob sich diese verschiedenen Sinn-
schichten zu einem soliden und harmonischen Ganzen
verbinden oder unabhängig fluktuieren können. Erst der
Leser zweiten Grades kann entscheiden, daß es schwierig
ist, in der Fabel vom Wolf und dem Lamm den wörtlichen
Sinn vom moralischen Sinn zu trennen (als ob es ohne den
moralischen Sinn keinen Sinn hätte, von diesem Streit
unter Tieren zu sprechen), während man mit Genuß und
Ehrfurcht lesen kann: In exitu Israel de Aegypto, / domus
Iacob de populo barbaro, / facto, est Iudaea sanctificatio eius, / Israel potestas eius , auch ohne zu wissen, daß diese Verse unter anderem im anagogischen Sinne bedeuten:
»die geheiligte Seele tritt aus der Knechtschaft der
irdischen Verderbnis hinaus in die
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