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Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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zwischen all jenen Neologismen und Latinisierungen nicht zu
    erkennen vermag, wie die Geschichte ausgeht.
    Genau besehen ist es das Spiel zwischen diesen beiden
    Lektüre-Ebenen, in dem sich die zwei Arten des
    Verständnisses von Katharsis in der aristotelischen Poetik und in der Ästhetik im allgemeinen bewegen. Bekanntlich
    läßt sich Katharsis ja sowohl in »homöopatischer« als
    auch in »allopathischer« Weise interpretieren: Im ersten
    Fall ergibt sie sich aus der Tatsache, daß der Tragödien-
    zuschauer wirklich von Furcht und Mitleid erfaßt wird,
    und zwar so tief, daß er sich durch das Erleiden dieser

    5 »Poliphilos Traumliebesstreit«, Roman von Francesco Colonna (1433
    –
    1527), erschienen 1499 bei Manutius in Venedig
    (A. d. Ü.).
    269
    Passionen reinigt und dann befreit aus der tragischen
    Erfahrung herauskommt; im zweiten Fall versetzt uns der
    tragische Text durch eine Verfremdung fast brechtischer
    Art in eine Distanz zu der dargestellten Passion, und wir
    befreien uns nicht, indem wir die Passion mitleiden,
    sondern indem wir die Art und Weise bewundern, in der
    sie dargestellt wird. Nun wird jeder leicht erkennen, daß
    für eine Katharsis der homöopathischen Art ein Zuschauer
    ersten Grades genügt (derselbe, der vor Freude weint,
    wenn im klassischen Western endlich die rettende
    Kavallerie erscheint), während eine allopathische Kathar-
    sis einen Leser zweiten Grades erfordert – was zur Folge
    hat, daß, vielleicht zu Unrecht, der Theorie von der allo-
    pathischen Katharsis eine größere philosophische Würde
    zuerkannt wird, eine reinere und reinigendere Sicht der
    Kunst, während die homöopathische Theorie eher mit der
    korybantischen Orgie und der eleusinischen Initiation
    durch betäubende Düfte und Drogen (oder heutzutage mit
    der Zelebrierung des Saturday Night Fever )assoziiert wird.
    Hüten wir uns davor, die Unterscheidung der beiden
    Ebenen so zu verstehen, als gäbe es auf der einen den
    leicht zufriedenzustellenden Leser, der sich nur für die
    Story interessiert, und auf der anderen den Leser mit
    ästhetisch verfeinertem Gaumen, für den allein die
    Sprache zählt. Wenn das so wäre, müßten wir einen
    Roman wie den Grafen von Montecristo auf der ersten
    Ebene mit roten Ohren lesen, womöglich auf Schritt und
    Tritt heiße Tränen vergießend, dann auf der zweiten Ebene
    pflichtbewußt feststellen, daß er, stilistisch gesehen, sehr
    schlecht geschrieben ist, und daraus schließen, daß es sich
    um einen ganz miserablen Roman handelt. Dabei ist es
    gerade das Wunder von Werken wie Der Graf von
    Montecristo , daß sie, obwohl tatsächlich sehr schlecht 270
    geschrieben, Meisterwerke der erzählenden Literatur sind.
    Folglich ist der Leser zweiten Grades nicht nur derjenige,
    der bemerkt, daß der Roman schlecht geschrieben ist,
    sondern auch derjenige, der sich bewußt macht, daß trotz
    dieses Mangels die narrative Struktur perfekt ist, die
    Archetypen alle am richtigen Platz stehen, die
    dramatischen Überraschungen millimetergenau dosiert
    sind, der Atem (wenn auch bisweilen keuchend) fast
    homerisch ist – so daß abfällig über den Grafen von
    Montecristo zu reden, weil seine Sprache nicht gut ist, so wäre wie abfällig über die Opern Verdis zu reden, weil
    Francesco Maria Piave oder Salvatore Cammarano nicht
    Leopardi waren. Der Leser zweiten Grades ist folglich
    auch derjenige, der sich bewußt macht, wie gut es dem
    Werk gelingt, auf der ersten Ebene zu funktionieren.
    Allerdings ist es sicher diese zweite Ebene der kritischen
    Lektüre, auf der sich entscheidet, ob ein Text zwei oder
    mehr Sinnschichten hat, ob es sich lohnt, nach einem
    allegorischen Sinn zu fahnden, ob die Fabel auch vom
    Leser erzählt – und ob sich diese verschiedenen Sinn-
    schichten zu einem soliden und harmonischen Ganzen
    verbinden oder unabhängig fluktuieren können. Erst der
    Leser zweiten Grades kann entscheiden, daß es schwierig
    ist, in der Fabel vom Wolf und dem Lamm den wörtlichen
    Sinn vom moralischen Sinn zu trennen (als ob es ohne den
    moralischen Sinn keinen Sinn hätte, von diesem Streit
    unter Tieren zu sprechen), während man mit Genuß und
    Ehrfurcht lesen kann: In exitu Israel de Aegypto, / domus
    Iacob de populo barbaro, / facto, est Iudaea sanctificatio eius, / Israel potestas eius , auch ohne zu wissen, daß diese Verse unter anderem im anagogischen Sinne bedeuten:
    »die geheiligte Seele tritt aus der Knechtschaft der
    irdischen Verderbnis hinaus in die

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