Die Bücher und das Paradies
Kunst und Gastro-
nomie auf eine Stufe zu stellen.
Schließlich kann nicht einmal der naivste Leser durch
die Maschen des Textes schlüpfen, ohne den Verdacht zu
schöpfen, daß der Text bisweilen (oder oft) über sich
hinausweist. Wobei sich dann zeigt, daß intertextuelle
Ironie nicht nur keinen Ausschluß bewirkt, sondern im
Gegenteil eine Aufforderung und Einladung zum
Einschluß darstellt, die stark genug ist, auch den naiven Leser allmählich in einen zu verwandeln, der das Aroma
der vielen anderen Texte wahrzunehmen beginnt, die dem,
den er liest, vorausgegangen sind.
Gibt es Beziehungen zwischen intertextueller Ironie und
dem biblischen oder danteschen Höheren Sinn? Einige.
Intertextuelle Ironie liefert säkularisierten Lesern, die
keinen spirituellen Sinn mehr im Text suchen, einen
intertextuellen Höhersinn. Die biblischen und poetischen
Höhersinne der Theorie des vierfachen Schriftsinns ließen
den Text in die Vertikale wachsen, jeder Sinn näherte sich
ein Stück mehr einem höheren Jenseits. Der intertextuelle
12 Dantes berühmtes Huldigungssonett an Beatrice in Kap. 26 seines Jugendwerks Vita Nova (A. d. Ü.).
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Höhersinn ist horizontal, labyrinthisch, rhizomatisch und
unendlich, er geht von Text zu Text immer weiter – wobei
es keine andere Verheißung gi bt als das fortwährende
Gemurmel der Intertextualität. Intertextuelle Ironie setzt
einen absoluten Immanentismus voraus. Sie liefert den-
jenigen Offenbarungen, die den Sinn für die Transzendenz
verloren haben.
Nicht ernst nehmen würde ich allerdings diejenigen, die
nun moralisierend den Schluß zögen, intertextuelle Ironie
sei die Ästhetik der Gottlosen. Sie ist eine Technik, die
auch von einem Werk aktiviert werden kann, das einen
spirituellen Höhersinn inspirieren will oder das sich als
hohe moralische Lehre präsentiert oder das von Tod und
vom Unendlichen zu sprechen weiß. Remo Ceserani hat
die Güte gehabt zu bemerken, daß mein angeblicher
Postmodernismus nicht frei von einem Sinn für Melan-
cholie und Pessimismus sei.13 Ein Zeichen dafür, daß
intertextuelle Ironie nicht um jeden Preis einen gedanken-
losen Karneval des Dialogismus voraussetzt. Aber gewiß
verlangt sie, so gequält der Text auch immer sein mag, daß
der Leser sich das Gewisper der Intertextualität vergegen-
wärtigt, die unseren Qualen vorangegangen ist, und daß
Autor und Leser sich auch im mystischen Corpus der
Nichtheiligen Schriften zu vereinigen wissen.
13 »Eco e il postmoderno consapevole«, in Raccontare il postmoderno , Turin, Bollati Boringheri, 1997, S. 180 – 200.
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Die aristotelische Poetik und wir1
Erlauben Sie mir als einem Italiener, die Frage der
aristotelischen Poetik in Form von Bekenntnissen eines Kindes meiner Zeit anzugehen. Die italienische Kultur hat
die großen Aristoteles-Kommentatoren der Renaissance
hervorgebracht, und in der Barockzeit war es Emanuele
Tesauro, der mit seinem Cannocchiale aristotelico die Welt der nachgalileischen Physik wieder auf die
poetischen Theorien des Aristoteles als den einzigen Weg
zur Lösung der Probleme der Humanwissenschaften
verwies. Doch schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist
die italienische Kultur durch jene Scienza nuova von Vico befruchtet worden, die jedwede aristotelische Vorschrift in
Frage stellte, um von einer Sprache und einer Dichtung zu
sprechen, die sich außerhalb aller Regeln entwickeln.
Während man in Frankreich – von Boileau bis Batteux,
von Le Bossu bis Dubos und sogar bis zur Encyclopédie –
noch dabei war, zusammen mit den Regeln des Ge-
schmacks die Regeln der Tragödie zu suchen, öffnete Vico
ungewollt das Tor zu einer Philosophie und einer
Sprachwissenschaft und einer Ästhetik der unvorher-
sehbaren Freiheit des Geistes.
Nicht der von Adel und Klassik geprägte esprit im
französischen Sinne ist hier gemeint, sondern der
1 Gekürzte Fassung des Hauptreferats auf dem Kongreß »Les
stratégies contemporaines d’appropriation de l’Antiquité« im
Oktober 1990 an der Sorbonne. Die Kongreßakten sind erschienen unter dem Titel Nos grecs et leurs modernes , ed. Barbara Cassin, Paris, Seuil, 1992.
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romantische und hegelianische Geist 2, der sich durch und in der Geschichte verwirklicht und selber Geschichte ist.
Daher war unsere Kultur hundert Jahre lang, vom Idealis-
mus des 19. Jahrhunderts bis zu Croce, von der Ablehnung
jeder Rhetorik und jeder Poetik beherrscht. In
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