Die Bücher und das Paradies
Funktionalität
übergehen, das mehr das Wie als das Was bewertet.
Anders steht es mit der intertextuellen Ironie. Außer in
Fällen, in denen es um die Suche nach Plagiaten oder nach
unbewußten intertextuellen Echos geht, präsentiert sich
eine Literatur, die mit Zitaten spielt, gewöhnlich als eine
Herausforderung des Lesers durch einen Text (um nicht
von den Intentionen des Autors zu sprechen), der ge-
wissermaßen dazu auffordert, sein dialogisches Geheimnis
zu entdecken.
Als Autor von Romanen, die gern und viel mit
intertextuellen Zitaten spielen, bin ich immer froh, wenn
der Leser die Bezugnahme oder den Wink versteht; doch
auch wenn man die Wünsche des empirischen Autors
beiseite läßt – wer immer zum Beispiel in der Insel des
vorigen Tages Anspielungen auf die Geheimnisvolle Insel von Jules Verne gefunden hat (etwa die anfängliche Frage,
ob es sich um eine Insel oder um Festland handelt), muß
wünschen, daß auch die anderen Leser diesen
augenzwinkernden Wink des Textes bemerken.
274
Natürlich ist, wenn hier intertextuelle Ironie vorliegt,
dies gerade deshalb der Fall, weil auch die Lektüre
derjenigen als legitim anerkannt werden muß, die hier
lediglich die Geschicke eines Schiffbrüchigen verfolgen,
der nicht weiß, ob er vor einer Insel oder einem Festland
Schiffbruch erlitten hat. Aufgabe des ästhetisch versierten
Lesers ist es, die Entscheidung zu treffen, daß auch die
erste Lektüre aus eigener Kraft legitim ist und daß der
Text sie zuläßt. Wenn ich im selben Roman einen
Doppelgänger einführe, nehme ich hin, daß es Leser gibt,
die sich wundern und sich über die scheinbar unmotivierte
Situation erregen, aber ich hoffe auf Leser, die sich
bewußt machen, daß die Präsenz eines Doppelgängers in
einem barocken Roman obligatorisch ist.
Wenn im Foucaultschen Pendel der Erzähler Casaubon
seine letzte Nacht in Paris zu Füßen des Eiffelturms
verbringt, erscheint ihm dieses Bauwerk von unten
gesehen wie ein monströses Wesen, und er fühlt sich von
ihm fast hypnotisiert. Um diese Seiten zu schreiben, habe
ich zwei Dinge getan: Einerseits habe ich mehrere Nächte
unter dem Turm verbracht, bemüht, mich genau in die
Mitte zwischen seine »Beine« zu stellen und ihn aus allen
möglichen Blickwinkeln zu betrachten, immer von unten
nach oben. Andererseits habe ich mir aber auch alle
literarischen Texte zusammengesucht, die über den Eiffel-
turm geschrieben worden sind, besonders zur Zeit seiner
Erbauung, meist indignierte und wütende Ablehnungen,
und was mein Protagonist sieht und hört, ist eine stark
zusammengedrängte Collage sehr vieler Poesie- und
Prosafragmente. Ich erwartete nicht, daß meine Leser all
diese Zitate erkennen würden (ich selbst kann sie heute
nicht mehr genau identifizieren und auseinanderhalten),
aber sicher wünschte ich mir, daß die versierteren Leser
den Schatten eines déjà vu verspürten. Zugleich ermög-275
lichte ich dem naiven Leser, die gleichen Eindrücke zu
empfinden, die ich unter dem Turm gehabt hatte, auch
wenn er nicht wußte, daß sie von so viel vorangegangener
Literatur genährt worden waren.
Es ist zwecklos, sich verbergen zu wollen, daß zwar
nicht der Autor, wohl aber der Text den intertextuell
beschlagenen Leser gegenüber dem naiven privilegiert.
Intertextuelle Ironie betreibt eine Art »Klassenauslese«. Es
kann eine snobistische Lektüre der Bibel geben, die sich
damit begnügt, nur den wörtlichen Sinn zur Kenntnis zu
nehmen oder allenfalls die rhythmische Schönheit des
hebräischen Textes oder der Vulgata zu schätzen (womit
sie freilich den ästhetisch versierten Leser ins Spiel
bringt), aber es kann keine snobistische Lektüre eines
Textes mit intertextueller Ironie geben, die sein
dialogisches Element ignoriert. Intertextuelle Ironie ruft
die happy few zusammen – nur daß diese sich bei ihr um so glücklicher fühlen, je weniger sie sind.
Sobald ein Text die Mechanik der intertextuellen Ironie
in Gang setzt, muß er sich freilich darauf gefaßt machen,
daß er nicht nur die vom Autor gewollten Bezüge
produziert, denn die Möglichkeit einer doppelten Lektüre
hängt ja vom Umfang der Textkenntnis des Lesers ab, also
vom Umfang seiner Belesenheit, und dieser Umfang kann
je nach Fall variieren. Auf einem Kongreß in Löwen, im
Jahre 1999, hat Inge Lanslots scharfsinnige Beobach-
tungen über viele Anspielungen auf Jules Verne gemacht,
die sich durch die Insel
Weitere Kostenlose Bücher