Die Bücher und das Paradies
einer bloßen Erfindung
sein könnte, so wie die des Großen Plans, den sie
zusammenbasteln, kommentiert Casaubon: Toi, apocryphe
lecteur, mon semblable, mon frère .10 Ich erinnere mich 9 In der deutschen Ausgabe des Foucaultscben Pendels lautet die Stelle auf S. 442: »Man muß argwöhnen, immer nur argwöhnen.«
(A. d. Ü.)
10 Dt. S. 236 (A. d. Ü.).
281
nicht mehr, woran ich beim Schreiben dachte, wahr-
scheinlich genügte mir die intertextuelle Beziehung zu
Baudelaire, die schon durch den Verweis auf die
apokryphen Evangelien angereichert war. Linda Hutcheon
definiert nun jedoch die Stelle als eine »parody of
Baudelaire by Eliot« (tatsächlich zitiert T. S. Eliot, wenn
Sie sich erinnern, diesen Vers in The Waste Land ), und sicher wird die Anspielung damit noch reichhaltiger. Was
machen wir also? Teilen wir die Leser auf in solche, die
nur bis zu Baudelaire gelangen, und solche, die bis zu
Eliot vordringen? Und was ist, wenn es einen Leser gäbe,
der zwar den heuchlerischen Leser bei Eliot gefunden hat,
aber nicht weiß, daß Eliot hier Baudelaire zitiert?
Alle haben bemerkt, daß der Name der Rose mit einem
Zitat des Johannesevangeliums beginnt (»Im Anfang war
das Wort« usw.). Aber wie viele haben bemerkt, daß
dieser Anfang auch als ein Zitat des Anfangs von Luigi
Pulcis Ritterepos Il Morgante Maggiore 11 gelesen werden kann, das mit einer respektvollen Verbeugung vor dem
Evangelisten Johannes beginnt ( In principio era il verbo
appresso a Dio / ed era Iddio il verbo e U verbo lui. /
Quest’era nel principio a parer mio / e nulla sipuò far
sanza costui )?
Doch genau bedacht, wie viele Leser haben wirklich
bemerkt, daß mein Roman mit einem Zitat des Johannes-
evangeliums beginnt? Ich habe japanische Leser gefunden
(und vielleicht braucht man gar nicht so weit in die Ferne
zu gehen), die jene tiefen Gedanken dem guten Adson
zugeschrieben haben, und trotzdem ist ihnen nicht die
11 Komisch-heroisches Epos in Stanzen über die Helden des
Karolingerzyklus, erschienen 1483 in Florenz (A. d. Ü.).
282
religiöse Inspiration entgangen, die aus den Worten des
alten Mönches spricht.
Der Grund ist, um genau zu sein, daß intertextuelle
Ironie, technisch gesehen, keine Form von Ironie ist.
Ironie besteht dann, nicht das Gegenteil der Wahrheit zu
sagen, sondern das Gegenteil dessen, wovon man
annimmt, daß der Gesprächspartner es für wahr hält. Es ist
Ironie, eine dumme Person als hochintelligent zu
definieren, aber nur, wenn der Adressat weiß, daß sie
dumm ist. Weiß er es nicht, wird die Ironie nicht erkannt,
und man liefert ihm nur eine falsche Information.
Infolgedessen wird Ironie, wenn der Adressat sich des
Spiels nicht bewußt ist, zur bloßen Lüge.
Was dagegen die intertextuelle Ironie angeht, so kann
ich die Geschichte eines Doppelgängers erzählen, ohne
daß der Adressat die Bezugnahme auf den barocken Topos
heraushört, und dennoch wird er nicht weniger Genuß an
der altehrwürdigen und wörtlich abgeschriebenen
Doppelgängergeschichte haben. In der Insel des vorigen
Tages gibt es einige überraschende Handlungsum-
schwünge, die klar auf Dumas verweisen, und manchmal
ist das Zitat sogar wörtlich, aber der Leser, der es nicht
erkennt, kann sich trotzdem, wenn auch naiv, an dem
schönen Theatercoup delektieren. Wenn ich also vorhin
gesagt habe, intertextuelle Ironie sei snobistisch und
aristokratisch, muß ich mich hier korrigieren, denn sie
schließt den naiven Leser nicht aus: Sie ist wie ein
Festmahl, bei dem im Erdgeschoß die Reste der im
Obergeschoß aufgetragenen Speisen verteilt werden, aber
nicht die Reste auf den Tellern, sondern die in den
Schüsseln, die gleichfalls gut aufgetragen worden sind,
und da der naive Leser glaubt, es gebe nur ein Fest im
Erdgeschoß, genießt er die Speisen als das, was sie sind
(und sie sind alles in allem schmackhaft und reichlich),
283
ohne zu ahnen, daß jemand anders schon mehr davon
gehabt hat.
Ganz ähnlich ist es ja auch, wenn jemand naiv das Sonett
Tanto gentile e tanto onesta pare 12 liest, ohne zu wissen, wie stark sich die Wortbedeutungen seit Dante verändert
haben und welche philosophischen Voraussetzungen seine
Dichtung hatte. Er erfreut sich bloß an einer schönen
Liebeserklärung und zieht dennoch großen Gewinn
daraus, sowohl emotional wie intellektuell. Woran man
sieht, daß meine kulinarische Analogie vielleicht provo-
zierend war, aber nicht beabsichtigte,
Weitere Kostenlose Bücher