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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Freiheit ewigen
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    Ruhmes«6 – und wer will nachprüfen, ob der Text des
    Psalmisten wirklich auch dies sagen wollte.
    Gewiß gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen dem ästhe-
    tisch und kritisch versierten Leser zweiten Grades und
    demjenigen, der konfrontiert mit Fällen von intertextueller
    Ironie sofort die Verweise auf das literarische Universum
    erfaßt. Aber die beiden Positionen können nicht einfach
    gleichgesetzt werden. Nehmen wir zwei Beispiele.
    Bei der Fabel vom Wolf und dem Lamm gibt es zwei
    Sinne, (den wörtlichen und den moralischen), und gewiß
    auch zwei Leser: den, der nicht nur die Geschichte
    verstehen will (wörtlicher Sinn), sondern auch ihre Moral,
    und den, der die stilistischen und erzählerischen Meriten
    des Fabeldichters Phaedrus erkennt. Aber es liegt keine
    intertextuelle Ironie vor, denn Phaedrus zitiert niemanden,
    oder wenn er einen älteren Fabeldichter zitiert, kopiert er
    ihn bloß. Homers Odysseus tötet die Freier: Hier gibt es
    nur einen Sinn, aber noch immer zwei Leser, den, der die
    Rache des Odysseus genießt, und den, der die Kunst
    Homers genießt, aber kein ironisches Zitat. In Joyces
    Ulysses gibt es zwei Sinne im biblisch-danteschen
    Verständnis (die Geschichte von Leopold Bloom als
    Allegorie der Geschichte von Odysseus), aber es ist
    schwer zu übersehen, daß es sich um eine Geschichte
    handelt, die den Irrfahrten des Odysseus nachgebildet ist,
    und sollte jemand das nicht von allein bemerken, würde
    ihm der Titel den Schlüssel liefern. Auch hier sind zwei
    Ebenen der Lektüre noch möglich, denn es kann ja
    immerhin sein, daß jemand den Ulysses nur liest, um zu 6 Anspielung auf Dantes Brief an Cangrande della Scala ( Epistola XIII ), worin er den vierfachen Sinn der Heiligen Schrift am Beispiel des Anfangs von Psalm 114 erklärt (A. d. Ü.).
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    wissen, wie die Geschichte ausgeht, auch wenn eine so
    begrenzte und begrenzende Lektüre höchst unwahr-
    scheinlich ist – falls wirklich jemand solch einen Aufwand
    treiben wollte, müßte man ihm raten, das Experiment nach
    dem ersten Kapitel abzubrechen, um sich Geschichten
    vorzunehmen, die rascher befriedigen. Unmöglich ist es
    jedoch, Finnegans Wake anders denn als ein riesiges
    intertextuelles Experimentierfeld zu lesen – es sei denn,
    man will sich den Text laut vorlesen, um ihn wie Musik zu
    genießen. Sinnschichten gibt es hier einige mehr als die
    vier der Heiligen Schrift, ihre Zahl ist unbegrenzt oder
    jedenfalls undefiniert. Der Leser ersten Grades verfolgt
    eine oder zwei mögliche Lesarten jedes einzelnen
    Wortspiels, hält dann erschöpft inne, verliert den Faden,
    steigt zur zweiten Ebene auf, um den Scharfsinn einer
    unvorhersehbaren und unauflöslichen Verschachtelung
    von Etyms und möglichen Lesarten zu bewundern, kehrt
    wieder zur ersten Ebene zurück und versucht erneut zu
    begreifen, ob im Text etwas geschieht, verliert den Faden
    abermals, und so geht es immer weiter. Finnegans Wake
    hilft uns nicht, die hier besprochenen Unterscheidungen zu
    verstehen, er stellt sie alle in Frage, er bringt alle Karten
    durcheinander. Aber das tut er ohne Verstellung, er täuscht
    dem naiven Leser nichts vor, indem er ihn vorankommen
    läßt, ohne daß er merkt, auf was für ein Spiel er sich
    einläßt. Nein, er packt den naiven Leser beim Kragen und
    befördert ihn mit einem Fußtritt zur Dienstbotentür hinaus.
    Bei der Arbeit an diesen Unterscheidungen wird einem,
    denke ich, bewußt, daß die Pluralität der Sinnschichten ein
    Phänomen ist, das sich in einem Text auch dann herstellt,
    wenn der Autor überhaupt nicht daran gedacht und nicht
    das geringste dafür getan hat, eine Lektüre auf mehreren
    Ebenen zu ermutigen. Auch der billigste Schreiberling, der
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    primitive Geschichten voller Blut, Horror, Sex und Gewalt
    erzählt, kann nicht vermeiden, einen moralischen Sinn
    mitschwingen zu lassen, sei’s auch nur den, daß
    Indifferenz gegenüber dem Bösen oder Verherrlichung
    von Sex und Gewalt die einzigen anzustrebenden Werte
    seien.
    Das gleiche läßt sich auch von den beiden Ebenen der
    Lektüre sagen, der semantischen und der ästhetischen.
    Genau bedacht gibt es diese Möglichkeit sogar bei einem
    Eisenbahnfahrplan. Zwei verschiedene Fahrpläne können
    mir auf der semantischen Ebene die gleiche Information
    liefern, aber ich kann den einen besser aufgebaut und
    leichter benutzbar finden als den anderen, also zu einem
    Qualitätsurteil über die Machart und

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