Die Bücher und das Paradies
Mitleid
empfinden zu lassen, wird aufregend vor dem Hintergrund
von Barockromanen, aber ohne herausragende Spitzen (dabei hielt man sich damals noch an Aristoteles), und dann nichts
Interessantes mehr bis zum 19. Jahrhundert, in dem sich auch nur wenige Titel finden, die denen der Dickens, Balzac, Tolstoi etc.
gegenübergestellt werden können. Wahr ist, daß der Roman ein
Produkt des Bürgertums ist und daß Italien zwar in den Zeiten von Boccaccio ein aufkommendes Bürgertum hatte, aber ein modernes
Bürgertum erst mit beträchtlicher Verspätung nach den anderen
europäischen Nationen hervorgebracht hat. Aber, ob Ursache oder Wirkung, es hat auch keine Theorien der Intrige hervorgebracht.
Aus diesem Grund war Italien (das heute hervorragende Kriminal-schriftsteller hat und mindestens zwei oder drei erwähnenswerte in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hatte) auch kein
Land, in dem der Kriminalroman entstehen und reifen konnte:
Denn der Kriminalroman ist nichts anderes als die aristotelische Poetik , reduziert auf ihre wesentlichen Elemente: eine Folge von Geschehnissen ( pragmata ), deren Fäden sich verwirrt und verloren haben, und der Plot ( mythos ) erzählt, wie der Detektiv sie findet und wieder zusammenfügt.
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unserer tief eingewurzelten Überzeugung, daß eine
Romanerzählung nun einmal diese Gefühle in uns
hervorrufen soll. Die Biologie rächt sich. Als die Literatur
sich weigerte, uns spannende Handlungen zu liefern,
haben wir sie uns im Kino oder in der Reportage gesucht.
Es gibt noch einen anderen Grund, aus dem unsere Zeit
sich so sehr für die Theorie der Intrige interessiert hat. Wir sind davon überzeugt, daß das Grundmuster der
Begriffspaare Story und Plot, Fabel und narrativer
Diskurs, pragma und mythos , nicht nur zur Erklärung jener literarischen Gattungen taugt, die man im Englischen
fiction nennt. Jeder Diskurs hat eine Tiefenstruktur, die narrativ ist oder in narrativen Begriffen entfaltet werden
kann. Ich könnte die Analyse zitieren, die Greimas von
Dumézils Einführung in seine Naissance d’Archange
gemacht hat,11 worin der wissenschaftliche Text eine
polemische Struktur an den Tag legt, die sich in Form von
akademischen Theatercoups, Kämpfen gegen Opponenten,
Siegen und Niederlagen ausdrückt. In meinem Buch
Lector in fabula (1979) habe ich zu zeigen versucht, wie man eine Fabel sogar noch unter dem scheinbar gänzlich
handlungsfreien Anfangssatz von Spinozas Ethik finden
kann: Per causam sui intelligo id cuius essentia involvit existentiam; sive id cuius natura non potest concipi nisi
existens .12
11 Algirdas Greimas, »Des accidents dans les sciences dites
humaines«, VS 12, 1975; jetzt in Du sens II, Paris, Seuil, 1983.
12 »Unter Ursache seiner selbst verstehe ich etwas, dessen Wesen die Existenz einschließt, oder etwas, dessen Natur nur als existierend begriffen werden kann.« (Vgl. hier und zum Folgenden: Eco,
Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten , dt. von Heinz-Georg Held, München, Hanser, 1987, S. 137 f., A. d. Ü.).
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In diesem Satz sind mindestens zwei fabulae enthalten.
Die eine betrifft einen grammatikalisch impliziten
Agenten ( ego ), der die Handlung des Verstehens oder
Bedeutens vollführt und dadurch von einer wirren zu einer
klareren Erkenntnis Gottes gelangt. Bedenken wir dabei:
wenn intelligo als »ich verstehe« oder »ich anerkenne«
verstanden wird, dann bleibt Gott ein Objekt, das durch
die Handlung nicht modifiziert wird, wenn aber das Verb
als »ich will bedeuten« oder »ich will sagen«, verstanden
wird, dann instauriert der Agent durch den Akt seiner
Definition das Objekt seiner Rede (läßt es als kulturelles
Objekt existieren).
Dieses Objekt mitsamt seinen Attributen ist zudem das
Subjekt einer anderen fabula . Es ist ein Subjekt, das eine Handlung vollführt, durch welche es kraft der Tatsache,
daß es west (vorhanden ist), existiert. Es scheint, daß der göttlichen Natur bei diesem Abenteuer nichts »passiert«,
da es weder einen zeitlichen Abstand zwischen
Aktualisierung des Wesens/Vorhandenseins und Aktua-
lisierung der Existenz gibt (und beide niemals durch
irgendeine dem Akt vorangehende Potenz hindurch-
müssen, da sie immer schon da sind), noch die Existenz,
indem sie überhandnähme, das Wesen/Vorhandensein
verändert. Wir haben es zweifellos mit einem Grenzfall zu
tun, bei dem sich sowohl die Handlung wie der Zeitverlauf
in
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