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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Leidenschaften befreit – wie es von seiner Politik nahegelegt würde (die jedoch unglücklicherweise auf die
    Poetik verweist, um eine Erklärung zu geben, die in
    keinem der beiden Werke explizit ausgeführt wird).
    Demnach wäre die Katharsis in traditionell medizinischen
    Termini als eine »homöopathische« Aktion zu verstehen,
    eine Befreiung des Zuschauers durch Identifikation mit
    den Leidenschaften der Personen des Dramas, und würde
    sich als Erfahrung des Unvermeidlichen aufzwingen. Die
    Tragödie wäre, so verstanden, eine korybantische oder
    psychagogische, den Zuschauer unmittelbar ins Geschehen
    hineinziehende Maschine (ein gewisser Abstand wäre nur
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    bei der Komödie möglich, doch über das, was Aristoteles
    unter Komödie verstand, wissen wir zu wenig).
    Die zweite Lesart versteht Katharsis im »allopathischen«
    Sinn, nämlich als Reinigung der Leidenschaften selbst , insofern diese »schön« dargestellt und aus der Distanz als
    Leidenschaften anderer gesehen werden, und das mit dem
    kühlen Blick eines Zuschauers, der reines, körperloses
    Auge geworden ist und nicht selbstempfundene Leiden-
    schaften genießt, sondern den Text, der sie in Szene setzt.
    Um diesen Konflikt zweier Lesarten zu radikalisieren
    könnte man sagen, einerseits ergibt sich eine dionysische
    Ästhetik und andererseits eine apollinische. Oder um ihn
    zu banalisieren, einerseits haben wir eine Ästhetik der
    Disko und des Splatterfilms (auf die Lesart der aristo-
    telischen Poetik als Theorie der massenmedialen Emotionen komme ich noch zu sprechen) und andererseits eine
    Ästhetik als Moment von heiter-gelassener, uneigen-
    nütziger Kontemplation, in der die Kunst den Glanz des
    Wahren zeigt.
    Diese Ambiguität steckt bereits in den Quellen, auf die
    Aristoteles sich bezog. Die Pythagoräer »hatten passende
    Gesänge für die Leidenschaften der Seele, einige für die
    Schwächen und andere für die Wutausbrüche, durch
    welche sie, indem sie die Leidenschaften im richtigen
    Maße erregten und steigerten, sie sich zu einer mutvollen
    Tugend formten« (Jamblichos, Leben des Pythagoras ).
    Und Pythagoras selbst benutzte poetische Texte – Homer,
    Dithyramben, Trauer- und Klagelieder – zu kathartisehen
    Zwecken. Wahrscheinlich ist, daß Aristoteles von einer
    Reinigung sprechen wollte, die sich durch einen Akt freier
    Schau der wunderbaren Organisation des Großen Tra-
    gischen Tieres verwirklicht, und daß er zugleich fasziniert
    war von den psychagogischen Kräften, die seine Kultur
    ihm nahelegte.
    295
    Andere fruchtbare Ambiguitäten machen die Aktualität
    der Poetik aus. Aristoteles ist ein Alexandriner, der den religiösen Geist, der noch das fünfte Jahrhundert beseelte,
    weitgehend verloren hat. Er arbeitet ein bißchen wie ein
    moderner westlicher Ethnologe, der nach universalen
    Invarianten in den Erzählungen der Wilden sucht, von
    denen er fasziniert ist, die er jedoch nur von außen
    versteht. Damit kommen wir zu einer anderen, sehr
    modernen Lesart von Aristoteles, die er selbst nahelegt,
    indem er so tut, als spreche er von der Tragödie, während
    er in Wirklichkeit eine Semiologie der Narrativität
    entwickelt. Das tragische Schauspiel umfaßt die Erzählung
    (den Mythos), die Charaktere, die Sprache, den Gedanken,
    die Inszenierung und die Musik, aber »das wichtigste
    dieser Elemente ist die Zusammenfügung der
    Geschehnisse … Daher sind die Geschehnisse und die
    Erzählung (der Mythos) das Ziel der Tragödie« (1450a
    15 – 23).
    Ich stimme Ricœur zu, wenn er schreibt6, in der Poetik
    werde die auf der Intrige gegründete Narration, diese
    Fähigkeit, eine Erzählung als »Zusammenfügung der
    Geschehnisse« zu komponieren, gleichsam zur all-
    gemeinen Gattung, von der die Epopöe eine Art oder
    Spezies darstellt. Die Gattung, von der die Poetik spricht,
    ist die Darstellung einer Handlung ( pragma ) durch einen mythos (im Sinne von Intrige, Plot, Handlungsgang oder
    -verwicklung7), von welchem die epische Diegesis und die
    dramatische Mimesis nur Arten sind.

    6 Paul
    Ricœur,
    Zeit und Erzählung I, 2, München, Fink, 1988.
    7 Im Orig. intreccio , Geflecht, Verwicklung ( scil. der Handlungsstränge), ab hier durchweg mit »Intrige« übersetzt
    (A. d. Ü.).
    296
    Nun ist die Theorie der Intrige das, was unser
    Jahrhundert vielleicht am tiefsten beeinflußt hat. Die erste
    Theorie der Narrativität entstand bei den russischen
    Formalisten, die einerseits die Unterscheidung zwischen
    fabula

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