Die Bücher und das Paradies
Leidenschaften befreit – wie es von seiner Politik nahegelegt würde (die jedoch unglücklicherweise auf die
Poetik verweist, um eine Erklärung zu geben, die in
keinem der beiden Werke explizit ausgeführt wird).
Demnach wäre die Katharsis in traditionell medizinischen
Termini als eine »homöopathische« Aktion zu verstehen,
eine Befreiung des Zuschauers durch Identifikation mit
den Leidenschaften der Personen des Dramas, und würde
sich als Erfahrung des Unvermeidlichen aufzwingen. Die
Tragödie wäre, so verstanden, eine korybantische oder
psychagogische, den Zuschauer unmittelbar ins Geschehen
hineinziehende Maschine (ein gewisser Abstand wäre nur
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bei der Komödie möglich, doch über das, was Aristoteles
unter Komödie verstand, wissen wir zu wenig).
Die zweite Lesart versteht Katharsis im »allopathischen«
Sinn, nämlich als Reinigung der Leidenschaften selbst , insofern diese »schön« dargestellt und aus der Distanz als
Leidenschaften anderer gesehen werden, und das mit dem
kühlen Blick eines Zuschauers, der reines, körperloses
Auge geworden ist und nicht selbstempfundene Leiden-
schaften genießt, sondern den Text, der sie in Szene setzt.
Um diesen Konflikt zweier Lesarten zu radikalisieren
könnte man sagen, einerseits ergibt sich eine dionysische
Ästhetik und andererseits eine apollinische. Oder um ihn
zu banalisieren, einerseits haben wir eine Ästhetik der
Disko und des Splatterfilms (auf die Lesart der aristo-
telischen Poetik als Theorie der massenmedialen Emotionen komme ich noch zu sprechen) und andererseits eine
Ästhetik als Moment von heiter-gelassener, uneigen-
nütziger Kontemplation, in der die Kunst den Glanz des
Wahren zeigt.
Diese Ambiguität steckt bereits in den Quellen, auf die
Aristoteles sich bezog. Die Pythagoräer »hatten passende
Gesänge für die Leidenschaften der Seele, einige für die
Schwächen und andere für die Wutausbrüche, durch
welche sie, indem sie die Leidenschaften im richtigen
Maße erregten und steigerten, sie sich zu einer mutvollen
Tugend formten« (Jamblichos, Leben des Pythagoras ).
Und Pythagoras selbst benutzte poetische Texte – Homer,
Dithyramben, Trauer- und Klagelieder – zu kathartisehen
Zwecken. Wahrscheinlich ist, daß Aristoteles von einer
Reinigung sprechen wollte, die sich durch einen Akt freier
Schau der wunderbaren Organisation des Großen Tra-
gischen Tieres verwirklicht, und daß er zugleich fasziniert
war von den psychagogischen Kräften, die seine Kultur
ihm nahelegte.
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Andere fruchtbare Ambiguitäten machen die Aktualität
der Poetik aus. Aristoteles ist ein Alexandriner, der den religiösen Geist, der noch das fünfte Jahrhundert beseelte,
weitgehend verloren hat. Er arbeitet ein bißchen wie ein
moderner westlicher Ethnologe, der nach universalen
Invarianten in den Erzählungen der Wilden sucht, von
denen er fasziniert ist, die er jedoch nur von außen
versteht. Damit kommen wir zu einer anderen, sehr
modernen Lesart von Aristoteles, die er selbst nahelegt,
indem er so tut, als spreche er von der Tragödie, während
er in Wirklichkeit eine Semiologie der Narrativität
entwickelt. Das tragische Schauspiel umfaßt die Erzählung
(den Mythos), die Charaktere, die Sprache, den Gedanken,
die Inszenierung und die Musik, aber »das wichtigste
dieser Elemente ist die Zusammenfügung der
Geschehnisse … Daher sind die Geschehnisse und die
Erzählung (der Mythos) das Ziel der Tragödie« (1450a
15 – 23).
Ich stimme Ricœur zu, wenn er schreibt6, in der Poetik
werde die auf der Intrige gegründete Narration, diese
Fähigkeit, eine Erzählung als »Zusammenfügung der
Geschehnisse« zu komponieren, gleichsam zur all-
gemeinen Gattung, von der die Epopöe eine Art oder
Spezies darstellt. Die Gattung, von der die Poetik spricht,
ist die Darstellung einer Handlung ( pragma ) durch einen mythos (im Sinne von Intrige, Plot, Handlungsgang oder
-verwicklung7), von welchem die epische Diegesis und die
dramatische Mimesis nur Arten sind.
6 Paul
Ricœur,
Zeit und Erzählung I, 2, München, Fink, 1988.
7 Im Orig. intreccio , Geflecht, Verwicklung ( scil. der Handlungsstränge), ab hier durchweg mit »Intrige« übersetzt
(A. d. Ü.).
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Nun ist die Theorie der Intrige das, was unser
Jahrhundert vielleicht am tiefsten beeinflußt hat. Die erste
Theorie der Narrativität entstand bei den russischen
Formalisten, die einerseits die Unterscheidung zwischen
fabula
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