Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bücher und das Paradies

Die Bücher und das Paradies

Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
Vom Netzwerk:
einem Nullzustand befinden (= unendlich sind),
    während Gott seit jeher in seiner Selbstmanifestation
    handelt, indem er ununterbrochen und seit jeher die Tat-
    sache schafft, daß er kraft seines bloßen Wesens/
    Vorhandenseins existiert. Das ist wenig Handlung für eine
    Abenteuergeschichte, aber genug, um die Grundbedin-
    gungen einer Fabel zu ergeben. Es fehlt vielleicht an
    überraschenden Wendungen, aber das hängt von der
    Sensibilität des Lesers ab. Der Modell-Leser einer solchen
    301
    Geschichte ist ein Mystiker oder ein Metaphysiker, ein am
    Text Mitarbeitender mit der Fähigkeit, angesichts dieses
    Nicht-Geschehens, das ihn unaufhörlich durch seine
    Außerordentlichkeit erregt, intensivste Gefühle zu
    empfinden. Auch der Amor Dei Intellectualis , die Geistige Liebe zu Gott, ist eine brennende Leidenschaft, und es gibt
    verblüffende und fortdauernde Überraschung in der
    Erkenntnis des Vorhandenseins der Notwendigkeit.
    Wenn wir also heute entdecken, daß auch jeder
    philosophische oder wissenschaftliche Text als Erzählung
    gelesen werden kann, dann liegt das vielleicht auch daran,
    daß heute, mehr als in anderen Epochen, Wissenschaft und
    Philosophie sich als »Große Erzählungen« präsentieren
    wollen (vielleicht sogar, um der Krise des Romans zu
    begegnen). Dies heißt nicht, daß sie nun – wie es einigen
    widerfährt –, bloß weil sie Erzählungen sind, nicht mehr in
    Begriffen der Wahrheit beurteilt zu werden brauchten. Sie
    wollen ganz einfach eine bestimmte Wahrheit auch durch
    eine fesselnde narrative Struktur ausdrücken. Und wenn
    dann die großen philosophischen Erzählungen unzu-
    reichend erscheinen, sehen wir einen Großteil der heutigen
    Philosophie, statt die Wahrheit bei den Philosophen der
    Vergangenheit zu suchen, sie bei Proust oder Kafka, bei
    Joyce oder Thomas Mann suchen gehen. Was wohl nicht
    so sehr daran liegt, daß die Philosophen es aufgegeben
    hätten, die Wahrheit zu sagen, als daran, daß auch die
    Kunst und Literatur sich dieser Aufgabe angenommen
    haben. Aber dies sind marginale Betrachtungen, die mit
    Aristoteles nichts zu tun haben.
    Die Poetik hat viele Gesichter. Es kann keinen
    fruchtbaren Text geben, der nicht auch widersprüchliche
    Resultate zeitigt. Unter meinen ersten Entdeckungen der
    Aktualität des Aristoteles war ein Buch von Mortimer
    302
    Adler, der eine Ästhetik des Films auf aristotelischer
    Grundlage entwickelt hatte.13 Darin gab er folgende
    Definition: »Ein Film ist Nachahmung einer vollständigen
    Handlung von einer gewissen Größe unter Benutzung von
    Bildern, klanglichen Effekten, Musik und anderem.« Die
    Definition war vielleicht ein bißchen scholastisch (Adler
    war ein Thomist, der auch Marshall McLuhan inspiriert
    hat), aber der Gedanke, daß die Poetik , wenn sie auch
    nicht mehr zur Definition der »hohen« Literatur tauge,
    immer noch als eine perfekte Theorie der populären
    Literatur und Kunst benutzt werden könne, ist auch von
    anderen Autoren vertreten worden.14
    Ich teile nicht die Auffassung, daß die Poetik nicht zur Definition der »hohen« Literatur tauge, aber sicher ist, daß
    sie sich mit ihrem Beharren auf der Intrige (immer
    verstanden als Plot und Handlungsgang) besonders gut
    dazu eignet, die Strategie der Massenmedien zu beschrei-
    ben. Die Poetik ist zweifellos unter anderem die Theorie der Western à la John Ford – nicht weil Aristoteles ein
    Prophet gewesen wäre, sondern weil jeder, der eine Hand-
    lung durch eine Intrige darstellen will (was ein Western
    voll und ganz tut), nicht anders vorgehen kann, als
    Aristoteles es vorausgesehen hatte. Wenn das Geschich-
    ten-Erzählen eine biologische Funktion ist, hatte Aristote-
    les von dieser Biologie der Narrativität bereits alles
    verstanden, was man dazu brauchte.
    Die Massenmedien stellen sich nicht gegen unsere
    biologischen Neigungen, im Gegenteil, man könnte sie
    eher anklagen, menschlich, allzu menschlich zu sein. Die

    13 Art and Prudence , New York, Longmans, 1937, S. 486.
    14 Zum Beispiel Robert Langbaum, »Aristotle and Modern
    Literature« in Journal of Aesthetics and Art Criticism , September 1956.
    303
    Frage ist allenfalls, ob die Furcht und das Mitleid, die sie
    hervorrufen, wirklich zu einer Katharsis führen, aber wenn
    man Katharsis in ihrem homöopathischen Minimalsinn
    versteht (weine, und du fühlst dich besser), sind sie
    angewandte Poetik im Minimalzustand.
    Man könnte sogar sagen, wenn wir uns an die
    aristotelischen Ideen über

Weitere Kostenlose Bücher