Die Bücher und das Paradies
einem Nullzustand befinden (= unendlich sind),
während Gott seit jeher in seiner Selbstmanifestation
handelt, indem er ununterbrochen und seit jeher die Tat-
sache schafft, daß er kraft seines bloßen Wesens/
Vorhandenseins existiert. Das ist wenig Handlung für eine
Abenteuergeschichte, aber genug, um die Grundbedin-
gungen einer Fabel zu ergeben. Es fehlt vielleicht an
überraschenden Wendungen, aber das hängt von der
Sensibilität des Lesers ab. Der Modell-Leser einer solchen
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Geschichte ist ein Mystiker oder ein Metaphysiker, ein am
Text Mitarbeitender mit der Fähigkeit, angesichts dieses
Nicht-Geschehens, das ihn unaufhörlich durch seine
Außerordentlichkeit erregt, intensivste Gefühle zu
empfinden. Auch der Amor Dei Intellectualis , die Geistige Liebe zu Gott, ist eine brennende Leidenschaft, und es gibt
verblüffende und fortdauernde Überraschung in der
Erkenntnis des Vorhandenseins der Notwendigkeit.
Wenn wir also heute entdecken, daß auch jeder
philosophische oder wissenschaftliche Text als Erzählung
gelesen werden kann, dann liegt das vielleicht auch daran,
daß heute, mehr als in anderen Epochen, Wissenschaft und
Philosophie sich als »Große Erzählungen« präsentieren
wollen (vielleicht sogar, um der Krise des Romans zu
begegnen). Dies heißt nicht, daß sie nun – wie es einigen
widerfährt –, bloß weil sie Erzählungen sind, nicht mehr in
Begriffen der Wahrheit beurteilt zu werden brauchten. Sie
wollen ganz einfach eine bestimmte Wahrheit auch durch
eine fesselnde narrative Struktur ausdrücken. Und wenn
dann die großen philosophischen Erzählungen unzu-
reichend erscheinen, sehen wir einen Großteil der heutigen
Philosophie, statt die Wahrheit bei den Philosophen der
Vergangenheit zu suchen, sie bei Proust oder Kafka, bei
Joyce oder Thomas Mann suchen gehen. Was wohl nicht
so sehr daran liegt, daß die Philosophen es aufgegeben
hätten, die Wahrheit zu sagen, als daran, daß auch die
Kunst und Literatur sich dieser Aufgabe angenommen
haben. Aber dies sind marginale Betrachtungen, die mit
Aristoteles nichts zu tun haben.
Die Poetik hat viele Gesichter. Es kann keinen
fruchtbaren Text geben, der nicht auch widersprüchliche
Resultate zeitigt. Unter meinen ersten Entdeckungen der
Aktualität des Aristoteles war ein Buch von Mortimer
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Adler, der eine Ästhetik des Films auf aristotelischer
Grundlage entwickelt hatte.13 Darin gab er folgende
Definition: »Ein Film ist Nachahmung einer vollständigen
Handlung von einer gewissen Größe unter Benutzung von
Bildern, klanglichen Effekten, Musik und anderem.« Die
Definition war vielleicht ein bißchen scholastisch (Adler
war ein Thomist, der auch Marshall McLuhan inspiriert
hat), aber der Gedanke, daß die Poetik , wenn sie auch
nicht mehr zur Definition der »hohen« Literatur tauge,
immer noch als eine perfekte Theorie der populären
Literatur und Kunst benutzt werden könne, ist auch von
anderen Autoren vertreten worden.14
Ich teile nicht die Auffassung, daß die Poetik nicht zur Definition der »hohen« Literatur tauge, aber sicher ist, daß
sie sich mit ihrem Beharren auf der Intrige (immer
verstanden als Plot und Handlungsgang) besonders gut
dazu eignet, die Strategie der Massenmedien zu beschrei-
ben. Die Poetik ist zweifellos unter anderem die Theorie der Western à la John Ford – nicht weil Aristoteles ein
Prophet gewesen wäre, sondern weil jeder, der eine Hand-
lung durch eine Intrige darstellen will (was ein Western
voll und ganz tut), nicht anders vorgehen kann, als
Aristoteles es vorausgesehen hatte. Wenn das Geschich-
ten-Erzählen eine biologische Funktion ist, hatte Aristote-
les von dieser Biologie der Narrativität bereits alles
verstanden, was man dazu brauchte.
Die Massenmedien stellen sich nicht gegen unsere
biologischen Neigungen, im Gegenteil, man könnte sie
eher anklagen, menschlich, allzu menschlich zu sein. Die
13 Art and Prudence , New York, Longmans, 1937, S. 486.
14 Zum Beispiel Robert Langbaum, »Aristotle and Modern
Literature« in Journal of Aesthetics and Art Criticism , September 1956.
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Frage ist allenfalls, ob die Furcht und das Mitleid, die sie
hervorrufen, wirklich zu einer Katharsis führen, aber wenn
man Katharsis in ihrem homöopathischen Minimalsinn
versteht (weine, und du fühlst dich besser), sind sie
angewandte Poetik im Minimalzustand.
Man könnte sogar sagen, wenn wir uns an die
aristotelischen Ideen über
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