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Die Bücher und das Paradies

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Titel: Die Bücher und das Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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und sjužet vorschlugen und andererseits die Zerlegung der Fabel in eine Reihe von Motiven und
    narrativen Funktionen. Zwar ist es schwer, direkte
    Bezugnahmen auf Aristoteles in den Texten von Šklovskij,
    Veselovskij oder Propp zu finden, aber in der ersten
    Monographie über die russischen Formalisten, der von
    Victor Erlich ( Russian Formalism , 1954)8, zeigte sich klar, wieviel die Formalisten der aristotelischen Tradition
    verdankten – auch wenn Erlich zu Recht bemerkte, daß die
    formalistischen Begriffe fabula und sjužet nicht deckungs-gleich mit pragma und mythos sind. Mit gleichem Recht könnte man darauf hinweisen, daß die narrativen
    Funktionen bei Aristoteles weniger zahlreich sind als bei
    Propp. Aber das Prinzip ist ohne Zweifel dasselbe, und
    dieser Tatsache waren sich die ersten strukturalistischen
    Kritiker zu Beginn der sechziger Jahre bewußt geworden
    (es wäre allerdings ungerecht, hier nicht an die 36 drama-
    tischen Situationen von Polti und ihre Vervielfachung bei
    Souriau zu erinnern, die wie immer auch ungenau auf
    Gozzi zurückgehen
    – also auf einen Italiener des
    18. Jahrhunderts, der Aristoteles nicht vergessen hatte).9

    8 Dt. Russischer Formalismus , übers. von Marlene Lohner, München, Hanser, 1964.
    9 Anspielung auf die These des italienischen Lustspieldichters Carlo Graf Gozzi (1720 – 1806), der zufolge es im Theater nur 36
    dramatische Situationen gebe (vgl. die Bemerkung von Goethe in Eckermanns Gesprächen vom 14. Februar 1830), sowie auf deren Ausarbeitung und Weiterentwicklung durch Georges Polti ( Les trente-six situations dramatiques , Paris 1895) und Étienne Souriau ( Les deux cent mille situations dramatiques , Paris 1950), der durch 297
    »Zahllos sind die Erzählungen der Welt«, schrieb
    Roland Barthes in seiner »Introduction à l’analyse
    structurale des récits« ( Communications 8, 1966). »Es ist daher legitim, daß man, weit davon entfernt, auf jeden
    Ehrgeiz einer Theorie der Erzählung zu verzichten unter
    dem Vorwand, es handle sich um eine universelle
    Tatsache, sich immer wieder (seit Aristoteles) für die
    narrativen Formen interessiert hat; und es ist normal, daß
    der aufkommende Strukturalismus dieser Form besondere
    Aufmerksamkeit widmet.« In derselben Nummer von
    Communications , die sich mit der Aristoteles-Lektüre
    befaßte, fand sich auch der erste Beitrag von Genette,
    »Frontières du récit«, und die erste Formulierung jener
    Semiotik des Erzählens von Bremond, die als eine
    detaillierte Systematisierung der von Aristoteles
    angeregten formalen Strukturen angesehen werden könnte
    (seltsamerweise hat dann Todorov, der sich in seinen
    anderen Werken als ein guter Aristoteles-Kenner erweist,
    seine Grammaire du Décameron auf rein grammati-
    kalische Fundamente gestellt).
    Ich behaupte nicht, daß eine Theorie der Intrige und der
    Narrativität erst im 20. Jahrhundert entstanden sei.10 Das

    eine Kombinationsrechnung auf insgesamt 210 141 Situationen
    kam (A. d. Ü.).
    10 Im Gegenteil, die Kulturen des Romans haben seit jeher Theorien der Intrige hervorgebracht. Um zur Ablehnung des Aristoteles
    zurückzukehren, die charakteristisch für die italienische Kultur seit dem 17. Jahrhundert war, so wage ich nicht zu entscheiden, was Ursache und was Wirkung war, aber sicher ist, daß die italienische Kultur jahrhundertelang weder gute Romane noch gute Theorien
    der Intrige hervorgebracht hat. Groß im Kultivieren der Erzählung als Novelle, angefangen mit Boccaccio, hat die italienische Kultur Romane erst mit beträchtlicher Verspätung gegenüber anderen
    Kulturen hervorgebracht. Wir haben eine relativ breite Tradition 298
    Interessante ist aber, daß die moderne Kultur zu diesem
    »starken« Aspekt der aristotelischen Poetik genau in der Periode zurückgekehrt ist, in der die Romanform nach
    Aussage vieler in die Krise geraten war.
    Jedenfalls ist das Erzählen und das Erzählern Zuhören
    eine biologische Grundfunktion. Man entzieht sich nicht
    leicht der Faszination einer guten Intrige im Reinzustand.
    Joyce ignoriert vielleicht die Regeln der attischen
    Tragödie, aber nicht die aristotelische Idee des Erzählens.
    Er stellt sie höchstens in Frage, aber er respektiert sie. Die Nicht-Abenteuer von Leopold und Molly Bloom bleiben
    uns verständlich, weil sie sich vor dem Hintergrund
    unserer Erinnerungen an die Abenteuer von Tom Jones
    oder Télémaque/Telemach abzeichnen. Sogar die
    Weigerung des Nouveau Roman, uns Furcht und

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