Die Bücher und das Paradies
bestimmen.4
Mit einem Zitat von Northrop Frye erinnert Doležel,
daran, daß die Poetik eine intelligible Struktur der
Erkenntnis freilegt, die weder selbst Dichtung noch
Erfahrung von Dichtung ist, und betrachtet sie (unter Ver-
weis auf einige Unterscheidungen in der aristotelischen
Metaphysik )als eine produktive Wissenschaft, die auf Erkenntnis zielt, um Objekte zu schaffen.
In diesem Sinne interpretiert die Poetik nicht indivi-
duelle Werke, sondern benutzt sie lediglich als einen
Fundus von Beispielen. Doch bei der Verfolgung dieses
Ziels gerät sie in eine paradoxe Lage, denn während sie
das Wesen der Dichtung zu erfassen versucht, entgeht ihr
deren wesentlichstes Merkmal, nämlich ihre Einmaligkeit
und die Variabilität ihrer Erscheinungsformen.
So bemerkt Doležel, daß die Poetik des Aristoteles
zugleich der Gründungsakt sowohl der Literaturtheorie als
auch der abendländischen Literaturkritik ist, und dies
gerade aufgrund ihres inneren Widerspruchs. Sie etabliert
eine Metasprache der Kritik und ermöglicht Urteile auf der
Basis des von ihr gelieferten Wissens. Aber dieses Ergeb-
nis kostet sie einen Preis: Jede Poetik, die von idealen
Strukturen spricht und dabei die Besonderheiten der
individuellen Werke ignorieren will, ist immer auch eine
Theorie der Werke, die der Theoretiker als die besten
beurteilt. Daher hat auch die aristotelische Poetik eine –
um Popper zu paraphrasieren – »beeinflussende Ästhe-
4 »Aristotelian Poetics as a Science of Literature«, in Moris Halle (ed.), Semiosis, Semiotics and the History of Culture , Ann Arbor, Michigan Slavic Contributions, 1984, S. 125 – 138.
292
tik«, und Aristoteles verrät seine literarischen Präferenzen
jedesmal, wenn er ein Beispiel wählt.
Nach Gerald Frank Else5 könnte nur ein Zehntel aller
griechischen Tragödien den von Aristoteles beschriebenen
Strukturen entsprechen. In einem Circulus vitiosus hat ein
intuitiv-kritisches Urteil die Auswahl der Beispiele im
voraus getroffen, aufgrund derer dann die allgemeinen
Prinzipien entwickelt werden, die diese Auswahl kritisch
rechtfertigen. Wozu Doležel anmerkt, daß zwar auch Eises
Behauptung auf einem kritischen Vor-Urteil beruht, sein
Argument aber in jedem Fall stichhaltig ist, da es auf
jenen Teufelskreis hinweist, der wahrscheinlich die ganze
Geschichte der Poetik und der Kritik durchzieht.
Wir stehen also nicht vor dem Gegensatz (wie man lange
geglaubt hat) zwischen einer normativen Poetik und einer
Ästhetik, die sich auf einer so allgemeinen Ebene bewegt,
daß sie sich nicht mit der Realität der je besonderen Werke
kompromittiert (der Satz »Schönheit ist der Glanz der
vereinigten Transzendentalien« ist eine ästhetische Defi-
nition, mit der sich sowohl König Ödipus als auch ein schöner Abenteuerroman rechtfertigen läßt), sondern eher
vor dem Schwanken zwischen einer deskriptiven Theorie
und einer kritischen Praxis, die sich gegenseitig voraus-
setzen.
Aristoteles behandelt nicht nur abstrakte Kriterien von
Ordnung und Maß, Wahrscheinlichkeit oder Notwendig-
keit und organischem Gleichgewicht (Kap.
7, 1450b
21 ff.), sondern auch jenes Kriterium, das jede rein forma-
listische Lektüre der Poetik sprengt. Grundlegendes Ele-5 Aristotle’s Poetics. The Argument , Cambridge, Mass., Harvard University Press, 1957.
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ment der Tragödie ist die Intrige (im Sinne von Hand-
lungsgang oder Plot), und die Intrige ist Nachahmung
einer Handlung, deren Ziel, das Telos , der von ihr
produzierte Effekt, das Ergon ist. Und dieses Ergon ist die Katharsis . Schön oder gut gelungen ist diejenige Tragödie, die eine Reinigung von den Leidenschaften zu bewirken
vermag. Daher ist der kathartische Effekt eine Art
Krönung des tragischen Werks, und er hat seinen Sitz
nicht in der Tragödie als geschriebenem oder rezitiertem
Diskurs, sondern in der Tragödie als rezipiertem Diskurs.
Die Poetik stellt das erste Auftauchen einer Rezeptions-
ästhetik dar, aber sie stellt uns auch vor einige ungelöste
Probleme jeder »leserorientierten« Theorie.
Bekanntlich kann die Katharsis auf zweierlei Weise
interpretiert werden, und beide Interpretationen
werden von jener rätselhaften Formel gestützt, die in
1449b 27
–
28 steht: Die Tragödie verwirklicht
– »die Reinigung
von dieser Art Leidenschaften«.
Nach der ersten Lesart spricht Aristoteles hier von einer
Reinigung, die uns durch intensive Erfahrung unserer
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